Pforzheimer Zeitung, 03.06.2023

 

Was, wenn die Kirche nicht im Dorf bleibt?

Die Evangelische Kirche in Pforzheim steht vor einem riesigen Umbruch. Zwei Modelle stehen dabei zur Auswahl. Keine einfache Entscheidung.

Letizia Winnik, Redaktionsmitglied

Wie auch Vereine, Sportclubs und Parteien, verzeichnen die Kirchen in Baden-Württemberg einen deutlichen Mitgliederschwund. Die Pandemie und der gesellschaftliche Wandel haben diesen Prozess in den vergangenen Jahren wesentlich beschleunigt. Anscheinend verlieren Glaube und Religion immer mehr an Relevanz bei den Menschen – das weiß auch die Kirche selbst.

Der Hintergrund

Als Reaktion darauf startete die Landeskirche Baden vor rund zwei Jahren den Strategieprozess „ekiba 2032 – Kirche. Zukunft. Gestalten.“ (die PZ berichtete). Auch die Evangelische Kirche in Pforzheim musste sich Gedanken über ihre Entwicklung machen. Die Prognose lautet: In etwa zehn Jahren wird die Zahl der Gemeindeglieder von rund 32 300 auf 21 400 sinken. Folglich werden auch die finanziellen Mittel knapper. Um dem entgegenzuwirken oder wenigstens den Schwund zu verlangsamen, müssen die Gegenmaßnahmen radikal sein: Bei landeskirchlichem Personal und Gebäuden sollen 30 Prozent eingespart werden. Es werden also Stellen gekürzt oder sogar gestrichen, und die Zahl der Gebäude soll von 36 auf 13 reduziert werden.

Um dies umsetzen zu können, bedarf es eines Umdenkens und der Vision von Kirche selbst. Die Ziele neben den Kosten- und Emissionseinsparungen lauten: weniger Behörde sein und Doppelstrukturen abschaffen. Als Kriterium hat man sich außerdem gesetzt, dass Teams aus mindestens drei Hauptamtlichen gebildet werden sollen. Über all dem hat sich die Kirche auf die Fahnen geschrieben, die Vielfalt der Gesellschaft thematisieren und abbilden zu wollen.

Soweit der Rahmen. Über mehrere Monate hinweg wurden zwei Modelle ausgearbeitet, die der Stadtkirchenrat jüngst vorgestellt hat (die PZ berichtete). Aber wie genau sollen diese aussehen? Im Rennen sind das Modell „Fünf Gemeinden“ sowie andererseits „Fünf Schwerpunkte“ (siehe Grafiken). Modell eins ist im weitesten Sinne eine Fortführung der Gemeindefusionen, wie sie schon vor rund sieben Jahren im Kirchenbezirk stattgefunden haben. Die momentan bestehenden Gemeinden sollen zu fünf verknüpft werden. Dem gegenüber steht das Modell „Fünf Schwerpunkte“, das die Aufhebung von Gemeindegrenzen im ganzen Bezirk vorsieht. Hier werden auf verschiedene Standorte inhaltliche Akzente verteilt.

Ein Kirchenbezirk, zwei Modelle und unzählige Meinungen. Welches Modell ist zukunftsfähig? Die Argumente für und wider.

„Fünf Gemeinden“

Wer Fan von Parochie ist, also geografisch aufgeteilten Gemeinden, und wessen Herz am Kirchturm in der direkten Nachbarschaft hängt, favorisiert vielleicht das Modell „Fünf Gemeinden“. Hier bleibt das klassische Prinzip von Gemeindegrenzen schließlich erhalten. Die derzeit bestehenden neun Gemeinden würden zu fünf verschmelzen, teils auch in neuen Konstellationen. Das Konzept „Alles in einem“ ist besonders für Haupt- und Ehrenamtliche interessant, die gerne generalistisch arbeiten. Bestehende Freund- und Gemeinschaften in Kreisen können bestehen bleiben, teils könnten neue Gruppierungen entstehen. Auch zwischen den Kreisen und Zielgruppen kann Begegnung stattfinden. Außerdem fällt insbesondere bei immobilen Menschen die Sorge weg, für den sonntäglichen Gottesdienst mehrere Kilometer Weg auf sich nehmen zu müssen – zumindest vermeintlich.

Das Ganze hat nämlich einen Haken: Eine Sicherheit dafür, dass in diesem Modell die Kirche wirklich im Dorf bleibt, gibt es nicht.

Denn eines steht fest: Die Kirche muss und wird sich von Gebäuden trennen müssen. Lediglich vier Gotteshäuser bleiben davon sicher verschont, nämlich die Bergkirche in Büchenbronn, die Christuskirche in Brötzingen, die Schloßkirche sowie die Kirche in Eutingen, die vom Land wesentlich finanziert werden. Das bedeutet auch, dass beim ersten Modell das Problem mit der Mobilität nicht gelöst ist. Denn auch innerhalb der neuen Gemeindegrenzen werden lange Wege nötig sein. Um das lösen zu können, braucht es schlaue Ideen und neue Mobilitätskonzepte.

„Fünf Schwerpunkte“

Solche Konzepte sind essenziell für eine funktionierende Gemeinde, die aus dem kompletten Kirchenbezirk besteht. Denn das ist die Grundidee für das Modell „Fünf Schwerpunkte“. Alle evangelischen Kirchenmitglieder sollen sich hier als Teil einer großen Gemeinde identifizieren. Das schürt sicher Ängste bei Menschen, die ein traditionelles Kirchenverständnis haben. Denn wie kann Gemeinschaft auf einer weit verteilten Fläche entstehen? Gerade Kirchenmitglieder der ländlichen Gemeinden im Bezirk wie Mühlhausen oder Schellbronn könnten sich hier schnell vergessen oder abgehängt fühlen.

Aber die Idee, an verschiedenen
Orten einen thematischen Schwerpunkt zu behandeln, hat einen ganz besonderen Charme. Sie ist sicherlich mutig, aber vielleicht braucht es ja genau das.

Denn die ursprüngliche Idee von Gemeinde ist ein Auslaufmodell, das ähnlich funktioniert und scheitert wie das Konzept der Galeria Kaufhof. „Von allem ein bisschen an einem Ort“, das scheint nicht mehr zu funktionieren. Dank Algorithmen, Künstlicher Intelligenz und einer riesigen Bandbreite an Angeboten werden die Gesellschaft und die Bedürfnisse jedes Einzelnen immer individueller. Das Ergebnis des Kaufhaus-Konzepts: Insolvenz. Der Mensch sucht wohl den einen Ort, der exakt auf ihn zugeschnitten ist.

Und genau hier liegt die Stärke des Schwerpunktmodells. Die jeweiligen Gebäude können voll für die Zielgruppe und ein spezielles Thema gestaltet und genutzt werden. So wurden beispielsweise die Räumlichkeiten der bezirklichen Jugendkirche „mylight“ von Jugendlichen selbst renoviert, an ihre Bedürfnisse angepasst und nun hauptsächlich von ihnen genutzt. So würden in zehn Jahren exemplarisch auch die Kitas zu den nutzbaren Räumlichkeiten für den Schwerpunkt „Familienkirche“ gehören und außerhalb der Betreuungszeiten genutzt werden.

Laut Stadtkirchenrat sind die Namen der Schwerpunkte lediglich Arbeitstitel. Für kreative Vorschläge sei man offen.

Wie andere Branchen, steuert auch die Kirche zudem auf ein Personalproblem zu. Stellen mit einem profilierten Aufgabenbereich könnten für arbeitssuchende Pfarrer und Diakone besonders attraktiv sein. Im Übrigen schließt das Modell
bestehende Gruppen, Kreise oder
Aktionen nicht aus, die bislang von Ehrenamtlichen organisiert oder umgesetzt wurden. Vieles wird neu, aber eben auch nicht alles.

Die Gremienarbeit

Nur über Gebäude, Personal und Themen nachzudenken, reicht bei einem solchen Zukunftsprozess
allerdings nicht. Bislang setzt sich die Leitung einer Gemeinde im Kirchenbezirk aus den Dienstgruppen und Ältestenkreisen zusammen, die zuständig sind für alle Bereiche in ihrem Gebiet. Beim Modell „Fünf Gemeinden“ würde dies auch so bleiben. Im zweiten Modell werden die Schwerpunkte von sogenannten Beiräten geleitet. Um zu klären, ob diese Leitungsform oder ein solches Kirchenmodell juristisch überhaupt legitim ist, wurde die Rechtsabteilung des Evangelischen Oberkirchenrats eingeschaltet. Durch das „Kirchliche Erprobungsgesetz zum gemeindlichen und übergemeindlichen Zusammenwirken in Kooperationsräumen“ sei ein solches Modell möglich. Die konkrete Bezeichnung des Gremiums oder weitere inhaltliche Faktoren müssten jedoch noch erarbeitet werden. Claudia Becker, Öffentlichkeitsbeauftragte der Kirche, möchte für den ganzen Transformationsprozess jedoch klarstellen: Man befinde sich in der Diskussionsphase. Nichts sei final, alles könne sich noch ändern.

Das Fazit

Die Kirche ist so unbeliebt wie noch nie. Sich die Frage zu stellen, was ihre Aufgabe in der Gesellschaft ist, ist daher substanziell. Ein kompletter Neustart würde ihr sicher guttun. Die bisherige Entwicklung, nämlich die stetige Fusion von Gemeinden, macht eine komplette Fusion in weiter Zukunft unvermeidbar. Wieso also nicht jetzt schon damit anfangen? Das Schwerpunktmodell ist innovativ, flexibel und lässt Raum für Neues. Wie wäre es denn mit Schwerpunkt sechs: Digitale Kirche? Oder sieben, oder acht?

Durch Modell zwei wird die Kirche auch Anhänger und besonders aktive Mitglieder verlieren. Das ist schade, aber unvermeidbar. Es ist aber eben nicht mehr nur die Frage, wie man Mitglieder gewinnt oder behält, sondern auch, wie man seiner Verantwortung als gesellschaftlich (noch) relevante Organisation am besten nachkommen kann.

Gott selbst sprach: „Ich mache alles neu.“ Vielleicht sollte die Kirche
es ihm gleich tun.