(K)eine Wunderheilung
Seit eine Freikirche in Eimeldingen einen neuen Pastor hat, häufen sich dort Berichte über Wunderheilungen. Ein von der Gemeinde online verbreiteter Beleg für die Heilung eines Krebskranken erweist sich aber als Fälschung.
„Leute, Gott bewegt Deutschland auf sehr tiefgründige Art und Weise“, sagt Ben Fitzgerald auf Englisch in die Kamera. Der Pastor der Awakening Church, gebürtiger Australier, steht in aufgeknöpftem Jeanshemd auf dem Vorplatz des Gemeindezentrums G5 in Eimeldingen – der Heimat einer der größten und bekanntesten Freikirchen im Landkreis Lörrach. Und davon gibt es dort einige. Seinen rechten Arm hat Fitzgerald um einen jungen Mann gelegt, den er als „meinen Freund Raphael“ vorstellt. Und als lebendigen Beweis dafür, dass der Herr in Eimeldingen Wunder tut. Raphael trägt schwarze Skinny-Jeans und eine dunkle Jacke mit Pelzkragen. Ein schwarzes Käppi verdeckt seinen kahlen Schädel. Wegen der Chemotherapie, erklärt Fitzgerald in dem am 12. Februar auf Instagram veröffentlichten Video.
Raphael sei an Darmkrebs erkrankt, sagt der Pastor weiter. Vergangenen Dezember habe man in einem Gottesdienst im Eimeldinger G5 für ihn gebetet. Er lässt Raphael auf Deutsch schildern, was er daraufhin bei einem Arztbesuch im Januar erlebt haben will: Das Karzinom sei plötzlich verschwunden gewesen. „Preiset den Herrn“, ruft Ben Fitzgerald.
Es ist nicht das erste Heilungswunder, das „der Herr“ Fitzgerald zufolge in Eimeldingen vollbracht hat. Drei Wochen zuvor, am 22. Januar, hatte er im Sonntagsgottesdienst mehrere Heilungsgebete gesprochen – und an eine krebskranke Muslima namens „Fatima“ erinnert, für deren Heilung man zwei Monate zuvor gebetet habe. Ärzte hätten ihr nun bescheinigt, dass sie geheilt sei. Fatima ist damals nicht anwesend, Fitzgerald präsentiert kein Dokument, das ihre Heilung belegt. Diesmal ist es anders. Raphael lächelt unsicher, aber freundlich in die Kamera. Und es wird ein angeblicher Arztbrief eingeblendet, sechs Sekunden lang, der die Heilung belegen soll. „Gott hat diesen Mann geheilt, hier in Deutschland,“ sagt Fitzgerald, nach nur zwei Monaten Chemotherapie. „Und er kann dasselbe für dich tun.“ Und weiter: „Missversteht es nicht, zweifelt es nicht an.“
Angesichts dessen, dass der junge Mann eine Chemotherapie gemacht haben will, kann man den Zusammenhang zwischen dem Gebet und seiner angeblichen Heilung anzweifeln. Am Ende aber bleibt dies eine Glaubensfrage. Widerlegen lässt sich, dass der im Video präsentierte Arztbrief echt ist. Das in dem Video für wenige Sekunden lang eingeblendete Dokument ist teilweise geschwärzt, aber die Telefonnummer einer realen fachärztlichen Praxis bleibt lesbar. Diese erfährt durch eine BZ-Anfrage am 9. März von dem Video. Ein verantwortlicher Arzt zeigt sich im Telefongespräch bestürzt, bittet, den Namen seiner Praxis aus dem Spiel zu lassen. Zu dem angeblichen Arztbrief sagt er: „Das ist kein sinnvolles medizinisches Schreiben.“
Ein so gelayoutetes Dokument sehe er zum ersten Mal, sagt der Arzt. Der Inhalt ergebe keinen Sinn, die Angaben passten nicht zusammen und seien grammatikalisch fragwürdig: „Befund vollständig weg des Karzinom“, heißt es darin etwa. Die Praxis wird nicht als Urheber, sondern als Adressat angegeben – als Absender steht die Kassenärztliche Vereinigung Baden-Württemberg im Briefkopf. Deren Sprecher teilt dazu mit: „Der Brief ist objektiv eine Fälschung. Wir schreiben keinerlei Arztbriefe, stellen keine Diagnosen, stellen keine Überweisungen aus. Wir sind eine Verwaltung, keine Arztpraxis.“
Einen Tag später, am 10. März, ist der Beitrag auf dem Instagram-Kanal der Awakening Church nicht mehr abrufbar. Mehr als 600 Menschen haben ihn bis zum 9. März mit „Gefällt mir“ markiert, zahlreiche Nutzer haben ihn kommentiert: „Danke Jesus“ oder „Das ist unglaublich, Danke fürs Teilen!“ Zweifel äußert keiner von ihnen. Um das zu verstehen, muss man das Milieu verstehen, das sich im Eimeldinger G5 etabliert hat.
Ben Fitzgerald ist Gründer und Leiter des Missionswerks „Awakening Europe“, das eine christliche „Erweckung“ Europas anstrebt. Gemeint ist eine Bekehrung zum Christentum pfingstlich-evangelikaler Prägung, das Jesus nicht nur als Herr und Erlöser anerkennt, sondern dessen Wirken nacheifert – inklusive der Wunder, die Jesus gemäß Bibel vollbracht hat. Theologisch kann man Awakening Europe der dritten Welle der Pfingstbewegung zuordnen, dem neucharismatischen Evangelikalismus. Dessen Anhänger glauben, dass der Heilige Geist auf Erden Zeichen und Wundern bewirkt. Awakening Europe organisiert seit 2015 jährlich mehrtägige Glaubensfestivals in Stadien und Stadthallen, bei denen sich zehntausende Menschen zu christlicher Popmusik in Ekstase versetzen.
Zu den einflussreichsten Neucharismatikern gehört die Bethel Church in Redding, Kalifornien. Diese „Megachurch“ soll mehr als 11.000 Mitglieder haben. Sie betreibt einen TV-Sender, Heilungsräume, ein Label und ein Ausbildungszentrum. Fitzgerald hat Letzteres, die Bethel School of Supernatural Ministry, absolviert und in Redding als Pastor gewirkt, bevor er sich der Erweckung Europas widmete. Die Bethel Church weist ihn auf ihrer Webseite als Missionar aus.
Vor allem durch die Verbreitung ihrer Musik ist der Einfluss der Bethel Church weltweit gewachsen. Zusammen mit der aus Australien stammenden Hillsong Church dominiert sie den Markt christlicher Lobpreismusik. Ihre mitreißenden Popsongs werden in Gottesdiensten auf der ganzen Welt gespielt.
Der Kontakt zwischen Awakening Europe und der Eimeldinger Gemeinde ist Andreas Oelze zufolge unter anderem durch Timo Langner, den G5-Lobpreis-Leiter, angebahnt worden. Als Weltanschauungsbeauftragter der Evangelischen Landeskirche in Württemberg berät Oelze Menschen, die negative Erfahrungen mit religiösen Gruppen gemacht haben.
Unter Neucharismatikern sei die Auffassung verbreitet, dass Krankheit auf das Wirken dämonischer Mächte zurückzuführen sei – und daher durch Gebet geheilt werden kann, sagt Oelze. Er hat im Dezember 2022 eine Lobpreis-Konferenz im Eimeldinger G5 besucht und seine Beobachtungen in der Zeitschrift für Religion und Weltanschauung dokumentiert. Bei der Konferenz habe Ben Fitzgerald von einem jungen Mann erzählt, der tags zuvor von einem „Kopfweh-Dämon“ befreit worden sei, berichtet Oelze.
Anlass für seinen Besuch in Eimeldingen waren Beratungsgespräche mit Mitgliedern der Freikirche im G5, die deren Wandel zu einer neucharismatischen Gemeinde mit Sorge beobachteten. Dieser Wandel wurde in einer Gemeindeversammlung am 22. Januar besiegelt. Die Mitglieder beschlossen darin die Abspaltung vom Bund Freier Evangelischer Gemeinden und wählten Ben Fitzgerald zu ihrem Leiter. Und seit Ende März heißt die Gemeinde nicht mehr „G5meineKirche“, sondern „Awakening Church“.
Der Großteil der mehrstündigen Sonntagsgottesdienste im G5 wird von einer Lobpreis-Band bestritten. Sie liefert den Soundtrack für individuelle Gotteserfahrung. Sie schafft eine dichte, hochemotionale Atmosphäre und nährt die Erwartung, dass jeden Moment Übernatürliches geschehen kann. In vergleichsweise kurzen, von Synthesizer-Klängen untermalten Redebeiträgen animieren Ben Fitzgerald und andere Prediger die Gottesdienstbesucher, sich der Präsenz Gottes hinzugeben. Die tun es mit Inbrunst. Andreas Oelze sagt: „Dieses ekstatische Moment ist nicht zu unterschätzen: Wie sehr die Leute innerlich aufgeputscht sind, welche Energie sie dadurch haben.“ Das könne dazu führen, dass Menschen Erleichterung gesundheitlicher Beschwerden verspürten. „Ob diese Wirkung aber nachhaltig ist, muss kritisch hinterfragt werden.“
Der Religionspsychologe Michael Utsch beschäftigt sich intensiv mit dem Zusammenspiel von Religion, Psyche und Gesundheit – als Hochschulprofessor und Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen sowie als Psychotherapeut mit eigener Praxis. Es gebe durchaus Hinweise darauf, dass spirituelle Praxis Kräfte im Körper freisetzen kann, die zu gesundheitlichen Verbesserungen führen, sagt Utsch – und zwar über eine Placebo-Wirkung hinaus. Ob diese allein psychisch wirken oder externe Kräfte am Werk sind, bleibe eine Glaubensfrage: „Aber ich würde schon sagen: Der Glaube setzt Selbstheilungskräfte frei.“ Eine Anwendung entsprechender Methoden müsse aber mit Ärzten erfolgen: „Das im Rahmen eines doch eher suggestiven Gottesdienstes zu machen, ist fahrlässig.“
Die BZ hat den Eimeldinger Pastor Ben Fitzgerald mit dem gefälschten Arztbrief konfrontiert. Dieser sieht sich als Opfer eines Betrügers, er sei „wütend“ und „enttäuscht“. Ein Arzt aus Freiburg habe sein Team darauf aufmerksam gemacht, dass mit dem im Video präsentierten Dokument etwas nicht stimme. Weil die Arztpraxis den Betrug bestätigt habe, habe man das Video bei Instagram gelöscht. Raphael, der Mann aus dem Video, habe auf seine Nachfragen nicht reagiert und sei nicht mehr im Gottesdienst erschienen, so Fitzgerald.
Die betroffene Praxis hat eine Rechtsberatung in Anspruch genommen, will aber keine rechtlichen Schritte einleiten. Davon sehe man ab, weil der Datenschutz im medizinischen Bereich hochsensibel sei, sagt ein verantwortlicher Arzt. Bei der Kassenärztlichen Vereinigung sieht man nach der Löschung des Videos keine Notwendigkeit für weitere Schritte.
Dass eine neucharismatische Gemeinde einen solchen Betrug begehen würde, wäre dem Religionspsychologen Michael Utsch zufolge zumindest untypisch: „Die glauben an das, was sie da machen.“ Der Weltanschauungsbeauftragte Andreas Oelze kennt Berichte aus einer anderen Gemeinde: Menschen, die im Gottesdienst Heilung erfahren haben wollen, würden am darauffolgenden Sonntag wieder humpelnd ein Heilungsgebet empfangen. Für Oelze zeigt das nicht nur, welchen Effekt ekstatische Stimmung auf Schmerzempfinden haben kann. Sondern auch, wie viel Menschen ausblenden können, wenn sie etwas glauben wollen.