„Dürfen uns nicht verrückt machen“
Ernst-Wilhelm Gohl - Der württembergische Landesbischof zur Austrittswelle aus den Kirchen, der Kraft des Glaubens und warum er heute als junger Mensch zur Bundeswehr gehen würde. Außerdem: wie er zum Titel „Raser-Bischof“ kam.
Elisabeth ZollEs war ein Heimspiel. 16 Jahre lang war Ernst-Wilhelm Gohl Hausherr des Ulmer Münsters. Als evangelischer Dekan stand er für Ökumene und das Miteinander der Religionen. Offene Worte prägten seinen Stil, aber auch der Respekt vor dem Gegenüber. Als Mann der Mitte stellte sich Gohl 2022 der Wahl für das Amt des Bischofs der württembergischen Landeskirche und wechselte im Juli 2022 nach Stuttgart. Sein Weggang aus Ulm schmerzte viele. Das wurde auch bei einer Veranstaltung dieser Zeitung deutlich. Aus dem Händeschütteln kam Gohl gar nicht mehr heraus.
Frage: Herr Landesbischof, sind Sie denn schon angekommen in Ihrem neuen Amt?
Ich bin natürlich noch nicht angekommen. Aber ich bin dabei, Menschen kennenzulernen.
Frage: Wie sieht der Alltag des Landesbischofs aus? Worin unterscheidet er sich von den früheren Aufgaben als evangelischer Dekan?
Ganz praktisch: In Ulm bin ich auf 14 000 bis 15 000 Schritte pro Tag gekommen. Das sagte mein Schrittzähler. Heute waren es 4000. Ich war praktisch nur in Sitzungen.
Frage: Fehlt Ihnen da nicht die Seelsorge?
Mir wurde gleich nach meiner Wahl zum Landesbischof gesagt: Jetzt kannst Du viele Dinge nicht mehr machen, die Dir immer große Freude bereitet haben. Das war die Seelsorge, das waren Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen oder der wöchentliche Abendgottesdienst in einem Altersheim. Jetzt besteht eine meiner Aufgaben darin, Sonntagsgottesdienste zu besonderen Anlässen vorzubereiten. Das ist natürlich auch schön.
Frage: Machen Sie als Landesbischof noch das, wofür Sie Pfarrer geworden sind?
Auch als Dekan war es meine Aufgabe zu ermöglichen, dass wir als Kirche leben können. Und das ist natürlich auch die Aufgabe des Bischofs. Natürlich arbeite ich heute weniger in der praktischen Pastoral. Doch ich versuche, fast jeden Sonntag in einer anderen Kirche zu predigen. Und für das, was jetzt nicht mehr ist, ist Neues dazu gekommen.
Frage: In einem Interview sagten Sie, Sie müssten jetzt „dicke Bretter bohren“. Welches liegt gerade oben auf?
Die Frage: Wie gehen wir mit dem Phänomen um, dass so viele Menschen aus der Kirche austreten? In ganz vielen Gemeinden wird ja gute Arbeit gemacht. Doch wir müssen uns in der Verwaltung darauf einstellen, dass es künftig weniger ehrenamtliche Helfer gibt. Von diesem Trend dürfen wir uns aber nicht verrückt machen lassen. Da geht es den Kirchen wie anderen gesellschaftlichen Organisationen. Heute gehen viele Menschen lieber in ein Fitness-Studio als in einen Sportverein, weil sie dort Zeiten bestimmen und sich abmelden können, wenn sie keine Lust mehr haben. Dieser Trend hängt mit der gesellschaftlichen Individualisierung zusammen. Das Motto „Wachsen gegen den Trend“, das die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) vor Jahren ausgerufen hat, hat nur erschöpft und frustriert. Uns bleibt jedoch die Frage, wie kommen wir näher zu den Menschen?
Frage: Was können Kirchen tun?
Im Ulmer Münster hängt ein Plakat: 10 gute Gründe, in der Kirche zu sein. Das finde ich klasse. Dieses Plakat wird mitunter häufiger fotografiert als die Kunstwerke, weil es eine Art Selbstvergewisserung ist. Diese Gedanken dort machen Mut, weiter dabei zu bleiben.
Frage: Allerdings wird Kirche im Moment oft mit negativen Schlagzeilen im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal verbunden. Wie stark schaden Ihnen die zähen Debatten in der katholischen Kirche?
Erst einmal: Bei uns in der evangelischen Kirche gab es auch Missbrauch und wir sind dabei, diesen aufzuarbeiten. Da wird manches durchaus kritisch gesehen. Doch inzwischen wird die Staatsanwaltschaft eingeschaltet, sobald es einen Verdachtsfall gib. Diese prüft. Doch auch bei uns gab es eine Zeit, in der die Meinung vorherrschte: Das kann doch nicht sein. Da wurde die Institution mehr geschützt als die Opfer. Daraus haben wir gelernt. Uns helfen nur maximale Offenheit und Schutzkonzepte. Auch wenn manch Ehrenamtlicher es als Misstrauensbekundung deutet, wenn er mit einem Mal ein amtliches Führungszeugnis vorlegen soll.
Frage: Färben Vorgänge aus der katholischen Kirche ab?
Ja. Wir können nachweisen, dass bei uns in Köln die Austrittszahlen doppelt so hoch sind wie im Durchschnitt des Landes. Da wird nicht zwischen katholisch und evangelisch unterschieden.
Frage: Sie haben im Oktober im Kölner Dom gepredigt – und sich ausgerechnet in der Heimspielstätte des als eher homophob geltenden Kardinals Rainer Maria Woelki für die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare eingesetzt. Das war ökumenisch gesehen doch nicht gerade Entspannungspolitik?
Der Bibeltext zur Schöpfung war vorgegeben. Und ich habe nur zwei oder drei Sätze dazu gesagt. Ich wollte nicht polarisieren. Doch ich bin froh, dass es in unserer Landeskirche inzwischen die Möglichkeit gibt, dass gleichgeschlechtliche Paare gesegnet werden können. Gott ist vielfältiger als wir denken. Ich hatte dann mit heftigen Reaktionen gerechnet. Das Gegenteil war der Fall. Viele Kirchenbesucher sagten mir, es war gut, dass Sie das angesprochen haben.
Frage: In Ulm wurden Sie für Ihre Seelsorge von vielen geschätzt. Sie selbst hatten und haben einen furchtbaren Verlust zu verkraften: den Unfalltod Ihres Sohnes Johannes, 2001, im Alter von drei Jahren. Inwieweit hat Sie der Tod des eigenen Kindes als Theologe und Mensch geprägt?
Ich selbst habe immer das Gefühl gehabt, dass ich mir um Tote keine Sorgen machen muss. Diese sind bei Gott gut aufgehoben. Deshalb kann ich auch Trauer zulassen. Ich hatte vor diesem Unfall acht Jahre lang eine Trauergruppe begleitet und dabei gelernt. Zum Beispiel, dass Frauen und Männer anders trauern. Oder wie furchtbar es ist, wenn sich alles nur noch um das tote Kind dreht und die Geschwisterkinder vergessen werden. Diese Erfahrungen haben geholfen, machen den Verlust aber nicht weniger schlimm.
Frage: Braucht es die Kraft des Glaubens, um so einen Verlust verarbeiten zu können?
Das weiß ich nicht. Ich kann nur sagen, mir hat der Glaube geholfen. Dass Kinder aufwachsen können, ist nicht selbstverständlich.
Frage: Zu einer ganz anderen Krise: dem Krieg in der Ukraine. Das Land wehrt sich gegen einen Aggressor. Sie haben sich für Waffenlieferungen ausgesprochen. Warum?
Da sind wir in einem Dilemma. In der Bibel hat sich Jesus nie zu Homosexualität geäußert – obwohl das manche meinen – zur Gewaltanwendung aber schon. Er war dagegen. Doch es macht einen Unterschied, ob ich mich als Privatperson äußere oder ob jemand Verantwortung trägt für viele Menschen. Nach der lutherischen Tradition ist es durchaus gerechtfertigt, dass man sich gegen Ungerechtigkeit verteidigt. Meine Überzeugung ist, dass es keinen Frieden ohne Gerechtigkeit gibt. Da gibt es auch in der EKD unterschiedliche Positionen. Das müssen wir aushalten.
Frage: Sie haben als junger Mann Zivildienst geleistet. Würden Sie heute nochmals so entscheiden?
Heute würde ich wahrscheinlich zur Bundeswehr gehen, aber zum Sanitätsdienst. Ich habe unterschätzt, dass es Menschen gibt, denen es egal ist, ob hunderttausende Menschenleben für eine Idee sterben.
Frage: Gibt es Menschen, die das personifizierte Böse sind?
Ich unterscheide zwischen dem, was ein Mensch tut, und der Person. Ich tue mich schwer, wenn ein Mensch verteufelt wird. Jeder von uns hat Abgründe. Deshalb müssen wir das Böse ernst nehmen.
Frage: Eine weitere Krise beschäftigt uns: die Klimakrise. Was würden Sie als Vater – oder als Bischof – Ihren Kindern sagen, wenn sie sich auf der Straße ankleben wollen?
Lasst es bleiben! Ich würde sie aber auch fragen, was treibt Euch um. Der Einsatz der Klimaschützer ist wichtig. Doch diese Aktionen sind kontraproduktiv. Man spricht fast nur noch über sie und viel zu wenig über das, worum es geht.
Frage: Zum Schutz des Klimas hat die EKD für Dienstfahrten Tempo 100 auf Autobahnen beschlossen. Halten Sie sich daran?
Nein. Ich habe auch die Entscheidung für falsch befunden. Die Kirche sollte nicht den moralischen Ideengeber spielen. Tempolimits sind sinnvoll. Doch das zu regeln, ist Aufgabe der Politik. Dann besagt der EKD-Beschluss absurderweise noch, dass die Vorgabe nur für dienstliche Fahrten gilt. Mein Nein hat jedoch viele Aggressionen entfacht – und mir die Bezeichnung „Raser-Bischof“ eingebracht.
Frage: Macht Sie die öffentliche Kritik vorsichtiger?
Ich habe schon gemerkt, dass das Wort des Bischofs Gewicht hat. Trotzdem ist es mir wichtig, dass wir offen und ehrlich miteinander umgehen.