Badische Zeitung Freiburg im Breisgau, 22.04.2023

 

Eine Chance für den Glauben?Von Thomas Fricker

Von Thomas Fricker

Es gibt Dinge, die sind zu groß für uns Menschen. Die Frage etwa, wie es zur Existenz des Universums kam und warum, übersteigt ungeachtet aller Wissenschaft unseren Horizont. Und weshalb eigentlich gibt es den Homo Sapiens? Was macht diese Spezies aus? Die Suche nach Antworten jenseits des Erfahrbaren war einst Triebfeder für das Entstehen von Religionen. Glaube bot Menschen über Jahrtausende hinweg Halt, Richtung und Hoffnung. Bleibt das so?

Religiosität, Glaube ist zumindest im Christentum untrennbar mit Institutionen, mit Kirche verbunden. Aber die größte christliche Kirche, die römisch-katholische, gerät vielleicht nicht weltweit, aber in Deutschland zunehmend unter die Räder. Immer weniger Gläubige wollen noch vom Vatikan fremdbestimmte Schäfchen sein. Und immer mehr Menschen wenden sich auch von den hiesigen Bischöfen ab. Hinzukommt das entsetzliche Missbrauchsgeschehen über Jahrzehnte hinweg. Und der verheerende Umgang damit. Dokumentiert in mutiger Schonungslosigkeit diese Woche in Freiburg.

Der Bericht der von Erzbischof Stephan Burger autorisierten Arbeitsgruppe zur Durchleuchtung von Machtstrukturen im Zusammenhang mit Missbrauchstaten hat Abgründe offenbart, die man sich in ihrer Bodenlosigkeit kaum vorstellen konnte. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen nun die beiden früheren Freiburger Erzbischöfe Oskar Saier und Robert Zollitsch. Vor allem Letzterer brachte es erst als Personalchef Saiers und dann als Bischof sowie Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz offenbar zu einer wahren Meisterschaft der Vertuschung. Die kriminell anmutende Energie, die Zollitsch den Ermittlern zufolge darauf verwandte, den Ruf der Kirche zu wahren, indem er Täter deckte und ihnen damit indirekt wohl weitere Opfer zuführte, pervertiert die christliche Botschaft. Die Fassungslosigkeit über die Systematik dieses Handelns unter Zollitsch ist in der Erzdiözese mit Händen zu greifen.

Wohl bis an die Grenzen der eigenen Beherrschung empört war erkennbar auch Nachfolger Burger. Das Abhängen der Porträts von Saier und Zollitsch im Ordinariat war ein Symbol des Bruchs mit den Vorgängern. Damit allein wird es aber kein Bewenden haben können. Denn auch wenn Zollitsch nun – womöglich um weiteren symbolischen Strafen zuvorzukommen – Orden zurückgibt und auf das Recht verzichtet, dereinst im Freiburger Münster seine letzte Ruhe zu finden: Das Verkümmern katholisch-kirchlichen Lebens in der viertgrößten Diözese der Republik abzuwenden, ja im Idealfall zu neuer Blüte zu führen, liegt vor allem in der Verantwortung ihres amtierenden Oberhauptes. Und Burger steht dieser Aufgabe mit einem Handicap gegenüber.

Was immer er zur weiteren Aufklärung sexualisierter Gewalt, zur Unterstützung von Betroffenen und zur Vertrauensbildung unternehmen mag; Kritiker werden ihm vorhalten, er tue dies nur, um „seine“ Kirche vor dem endgültigen Aus zu bewahren. Und natürlich ist an diesem Argument etwas dran. Warum sollte Burger auch nicht behüten, was er – trotz allem – für segensreich hält? Dieses Motiv gleichzusetzen mit dem Willen, dem Schutz des heiligen Scheins das Wohl unzähliger Kinder zu opfern, verbietet sich dennoch. Im Bemühen um Aufarbeitung agiert Burger glaubwürdig. Die Frage ist, ob das reicht.
Bisher hat sich der Erzbischof nicht nur als rechtschaffen, sondern auch als treuer Diener Roms erwiesen. Vorhaben des Synodalen Wegs in Deutschland – etwa die Begrenzung bischöflicher Macht, die Priesterweihe für Frauen und ein Ende des Zölibats – begleitete er skeptisch. Womöglich liegt aber die Zukunft der katholischen Kirche einzig in radikaler Erneuerung. Burger wird sich selbst radikal prüfen müssen – um Religiosität und Glaube eine neue Chance zu eröffnen.

fricker@badische-zeitung.de