„Nun trägt er große Schuld“
Kirche: Dekan, Dekanatsrat und ein Betroffener reagieren auf den Bericht zum Missbrauch im Erzbistum Freiburg
Von Peter W. Ragge
„Beschämend“ – das ist das erste Wort, das ihm einfällt. So reagiert Hansheinrich Beha, als Vorsitzender des Dekanatsrats oberster Vertreter der katholischen Gläubigen in Mannheim, auf die neuesten Nachrichten aus Freiburg. Da hatte eine Kommission festgestellt, dass der frühere Erzbischof Robert Zollitsch in seiner Amtszeit von 2003 bis 2013 sexuellen Missbrauch vertuscht, kirchenrechtlich nicht geahndet und Strafverfolgung verhindert hat.
Beha schätzt Zollitsch, erinnert sich gerne an den Katholikentag 2012 in Mannheim mit ihm. „Aber nun trägt er große Schuld“, kritisiert Beha. Der frühere Erzbischof habe „zu viel unter den Tisch gekehrt, dabei hätte er doch wissen müssen, dass er solche Fälle nach Rom melden muss“, bedauert er. Er könne sich das nur „mit falscher Rücksichtnahme, subjektiv falschem Korpsgeist“ erklären, „doch das ist alles nicht zu dulden, auf gar keinen Fall, das belastet uns als Kirche schwer“.
„Es gab Verdachtsfälle“
Schon seit Wochen habe es in den Gemeinden eine große Unsicherheit gegeben, was da wohl am 18. April veröffentlicht werde, spürte Beha: „Dass es den Umfang hat, das hat keiner gedacht. Dass es so schlimm war, damit hat keiner gerechnet“, erklärt der Dekanatsratsvorsitzende. Er rechnet mit „großer Entrüstung“ in den Gemeinden und fordert, man müsse jetzt „alles offenlegen“. Zugleich ist er überzeugt, dass Alleingänge wie die von Zollitsch heute nicht mehr möglich wären, weil der heutige Erzbischof und der Generalvikar besser kooperierten. Konkrete Missbrauchsfälle in Mannheim sind ihm seit seiner Amtszeit, also ab 2005, nicht bekannt. „Vertraulich würde ich sicher davon erfahren“.
„Es gab Verdachtsfälle, die umgehend an das Erzbistum gemeldet wurden“, sagt Dekan Karl Jung. Zahlen nennt er nicht; bearbeitet wurde das dann ohnehin alles in Freiburg, nicht bei ihm. Auch was daraus wurde, erfuhr er nicht. Der neue Freiburger Bericht zeigt nach Einschätzung von Jung, „dass Verbrechen vertuscht, Täter geschützt und die Betroffenen völlig außer Acht gelassen wurden“, kritisiert der Dekan: „Diese Missachtung des Evangeliums schockiert mich zutiefst, wühlt mich auf und macht mich sprachlos.“
Jung fordert daher, dass sich die Kirche mehr den Opfern zuwende. „Wir müssen anerkennen, was die Betroffenen erlebt und erlitten haben, und in diesem Zusammenhang ganz klar die Systemfrage stellen“, verlangt der Dekan. Er hält es für unabdingbar, „dass staatliches und kirchliches Recht eingehalten und die Einhaltung durch Kontrollverfahren gesichert werden muss“. Man müsse mit „Transparenz, klaren Verantwortlichkeiten und Regeln Missbrauch und Verschleierung den Boden entziehen“, hofft er. Gleichzeitig brauche es eine intensive Präventionsarbeit, wozu es ständig Schulungen für Haupt- und Ehrenamtliche im kirchlichen Dienst gebe. „Denn nur damit ist gewährleistet, dass grenzachtender Umgang Teil der kirchlichen Kultur ist“, so Jung. Dazu brauche man „Strukturen, in denen es keinen Raum mehr gibt für absolute Abhängigkeit und Gewissensdruck, geschlossene Systeme und Missbrauch jeglicher Art“, fordert der Dekan.
Um auf die Veröffentlichung des Berichts über den früheren Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt in der Erzdiözese Freiburg zu reagieren, macht das Dekanat zwei Gesprächsangebote: einmal dauerhaft im Möglichkeitsgarten der Kirche auf der Bundesgartenschau und am Samstag, 22. April, zwischen 9 und 14 Uhr auf dem Marktplatz mit dem Seelsorgeteam der Seelsorgeeinheit Johannes XXIII. Zudem wurden Postkarten gedruckt, auf denen jeder Wut, Enttäuschung, Forderungen und Hoffnungen formulieren kann. Die sollen Erzbischof Burger übergeben werden, wenn er zum Gottesdienst auf die Buga kommt. Auf den Karten ist auch die Telefonnummer für Betroffene der Erzdiözese Freiburg vermerkt. Hier können sich alle melden, die Grenzüberschreitungen erfahren haben oder die diese Aufarbeitung betroffen macht.
Vom Ausmaß überrascht
Walter Thür hat in den 1970er Jahren als Ministrant in der katholischen Gemeinde St. Elisabeth in der Gartenstadt Missbrauch durch einen Pfarrer erlebt – etwas, was sein ganzes Leben geprägt, ihm immer wieder zu schaffen gemacht hat. 2022 veröffentlichte er ein Buch darüber: „Wahre Kreise schließen sich“. Für ihn hat sich damit ein Kreis geschlossen, ihm hat das geholfen. Und doch hat ihn der neue Bericht aus Freiburg wieder aufgewühlt. „Dass vertuscht und versteckt wurde, war mir eigentlich klar“, sagt er auf Anfrage, „aber das Ausmaß dieser toxischen Ignoranz gegenüber Betroffenen hat mich doch überrascht“, so Walter Thür. Dass ein ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz „sich in ein solches Tal von Lügen und Verheimlichungen begibt, habe ich in diesem Umfang nicht erwartet“, seufzt er. Dass Zollitsch nachweislich auch kirchliches Recht bewusst gebrochen habe, „setzt dem Ganzen noch eine unehrenhafte Krone auf“, findet er.
Thür erinnert sich noch gut an den Sommer 2010, als er im Ordinariat Freiburg beim damaligen Domkapitular wegen seines Falls vorsprach. „Der begegnete mir mit sehr viel Empathie und einer glaubhaften Anteilnahme“, berichtet Thür. „Ich hörte Verzweiflung, Trauer und Wut aus seinen Worten heraus“, aber der Domkapitular habe damals sinngemäß auch gesagt, der Bischof könne das Geschehene Leid „doch nicht einfach wegwischen“. Aus heutiger Sicht kommt ihm das schon so vor, als habe man den Fall klein halten wollen. Bei einem Gespräch 2020 beim heutigen Erzbischof Burger habe er aber den Eindruck gehabt, dass dieser „nun um ehrliche und offene Missbrauchsaufarbeitung bemüht ist“, so Thür: „Und das rechne ich ihm persönlich hoch an“.