Rasanter Ritt durch die Mystik
Nico RollerAlle drei Vorstellungen ausverkauft: Musical des Steiner CVJM stellt existenzielle Fragen
Ein schriller, pfeifender Dauerton zeigt an, dass ihr Herz zum Stillstand gekommen ist, dass es nicht mehr schlägt, dass es kein Blut mehr durch die Adern pumpt. Emelie hat das irdische Dasein verlassen und befindet sich in einem Schwebezustand. Im weißen Krankenhaus-Leibchen wandelt die junge Frau durch einen großen Saal voller Bücher, verwundert und erstaunt über die vielen prall gefüllten Regale und Schränke. Es handelt sich um die Bibliothek des Lebens, die sich am Übergang von Leben und Tod befindet. Sie steht im Mittelpunkt des neuen Musicals, das der Steiner CVJM am Wochenende gleich dreimal zur Aufführung gebracht hat.
Insgesamt mehr als 600 Menschen sind am Freitag, am Samstag und am Sonntag in die Königsbacher Festhalle gekommen, um eine abwechslungsreiche Mischung aus Tanz, Musik, Schauspiel und Gesang zu erleben, um zu sehen, was die 24 Mitwirkenden in den vergangenen anderthalb Jahren für sie vorbereitet haben. „Die Stimmung ist super“, sagt Jonathan Wälde: „Man merkt, dass die Leute froh sind, dass wieder etwas stattfindet.“ Wälde ist professioneller Turniertänzer, war unter anderem schon mehrfacher Finalist bei den baden-württembergischen Landesmeisterschaften und hat beim Musical die Gesamtleitung inne, unterstützt von Rebekka Golling, Sabrina Korn und Julia Stührk. Er trainiert die „Monday Boys and Girls“, die Musicaltanzgruppe des Steiner CVJM, die sich jeden Montagabend im evangelischen Gemeindehaus trifft, um zwei Stunden lang intensiv zu proben.
Im November 2021 haben die Tänzer damit angefangen – und anschließend so viel Zeit und so viel Aufwand wie nie zuvor in die Vorbereitung des Musicals investiert. „Jeder war mit unglaublich viel Herzblut dabei“, berichtet Wälde, der es kaum fassen konnte, als alle drei Vorstellungen bereits zweieinhalb Monate im Voraus restlos ausverkauft waren. Ihm ist es wichtig, dass die Musicals für jeden etwas zu bieten haben, dass jeder angesprochen und mitgenommen wird. „Wir wollten dieses Mal etwas mit Tiefgang machen“, erklärt Wälde: „Etwas, das die Besucher zum Nachdenken anregt.“
So wurde die Idee für die „Bibliothek des Lebens“ geboren, die existenzielle Fragen stellt: nach dem Sinn des Lebens, nach der Konstruiertheit des eigenen Ichs und nach den Möglichkeiten, glücklich zu sein. Im Mittelpunkt der Handlung steht Emelie (gespielt von Stefanie Postweiler und Marla Reith), die nach einem Suizidversuch im Schwebezustand zwischen Leben und Tod auf die Bibliothekarin Misses Elms (Lana Huniar) trifft. Mit Hilfe der Bücher eröffnet diese der jungen Frau die Möglichkeit, in andere Leben einzutauchen und zu erfahren, welche Alternativen es für sie theoretisch gegeben hätte.
Alternativen, die letztlich aber gar keine sind: Als Artistin wird Emelie das Opfer von Intrigen und Konkurrenzkämpfen, als erfolgreiche Geschäftsfrau verliert sie ihre Familie aus dem Blick und als Barkeeperin muss sie hart arbeiten, wenn andere sich vergnügen. Während die bunten Scheinwerfer über ihnen kreisen und blinken, entführen die Tänzer des Steiner CVJM in ferne Welten: nach Marseille und nach Indien, ins Zirkuszelt und in die Vorstandsetagen der Industriekonzerne. Sie tragen Anzüge und Röcke, Pullover und Pumps, Jogginghosen und Perücken, Pantoffeln und Brillen. Die Sänger Ariane Berzel, Martina Klein, Samuel Link und Alisa Sauer präsentieren Balladen, Chansons, Rock- und Popsongs, unter anderem von Edith Piaf, Johannes Oerding und aus „The Greatest Showman“. David Ruf schleudert die Diabolos durch die Luft, während Monika und Theresia Fehling beeindruckende Akrobatik zeigen. Kein Wunder, dass das Publikum am Ende tosenden Beifall im Stehen spendet.
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