„Wir erreichen nicht die, die wir erreichen wollen“
Im Gespräch: Evangelische Dekanin Annemarie Steinebrunner und Dr. Thorsten Beurer sprechen über Herausforderungen für die Kirche
Von Andreas Lin
Schwetzingen/Region. Die evangelische Landeskirche nimmt mit dem Strategieprozess „ekiba 2032 – Kirche. Zukunft. Gestalten“ die Herausforderungen dieser Zeit in den Blick. „Wir laden die Menschen innerhalb und außerhalb unserer Kirche dazu ein, gemeinsam darüber nachzudenken, wo und wie sie Gott erleben möchten und welche Rolle unsere Kirche dabei spielen kann. Wir tun dies im Wissen, dass die finanziellen und personellen Spielräume kleiner werden. Daher schauen wir genau hin und überlegen gemeinsam, wo wir Gutes weiterführen, wo wir Neues entdecken und wo wir Altes aufgeben möchten. Wir gestalten gemeinsam die Zukunft“ – so heißt es auf der Homepage der Landeskirche.
Im Herbst ging es bei der regionalen Visitation im evangelischen Kirchenbezirk Südliche Kurpfalz, zu dem auch die Region um Schwetzingen gehört (Region Nordwest), intensiv um die Zukunft der Gemeinden. Wie stellen sich die Gemeinden auf bei sinkenden Mitgliederzahlen und demnach auch Einnahmen, weniger Personal und Gebäuden, die nachhaltig und klimagerecht für die nächste Generation erhalten werden sollen? An welchen Stellen können die Gemeinden in der Region gut zusammenarbeiten, verschiedene auch neue Angebote machen, sich die Arbeit aufteilen? Auch Gebäude gemeinsam nutzen?
Im Nachgang haben wir uns mit Dekanin Annemarie Steinebrunner und dem Ehrenamtlichen Dr. Jochen Beurer, einem von drei gewählten Landesynodalen im Kirchenbezirk, über den Strategieprozess und die Herausforderungen der Zukunft unterhalten. Dass Beurer bei dem Gespräch dabei ist, war der Dekanin sehr wichtig: „Denn bei der evangelischen Kirche sind die Leitungsgremien immer so besetzt, dass mehr Ehrenamtliche entscheiden als Hauptamtliche.
Wo liegen denn die Ursachen für den Mitgliederschwund, außer dass die Leute die Kirchensteuer sparen wollen?
Dr. Jochen Beurer: Der Mitgliederschwund lässt sich nicht durch die Demografie und die Austritte allein erklären. Viele Evangelische lassen ihre Kinder nicht mehr taufen, das kann man „Taufzurückhaltung“ nennen. Das ist natürlich perspektivisch ganz schwierig, wenn so praktisch eine Entfremdung zur Kirche schon im Kindesalter stattfindet.
Also sollen die Kinder selbst entscheiden, ob sie getauft werden wollen oder nicht?
Annemarie Steinebrunner: Kinder ohne Kontakt mit Kirche bekommen kaum etwas davon mit, worum es in der Bibel geht und was den christlichen Glauben ausmacht. Wie sollen sie sich für oder gegen etwas entscheiden, das sie gar nicht kennen?
Beurer: Kinder können so eine Entscheidung gar nicht fundiert treffen. Ich bin auch erst mit 14 Jahren getauft worden, das war aber völlig in Ordnung. Ich war im Kindergottesdienst, so lange mir das Spaß gemacht hat – und das war nicht sehr lange – und im Religionsunterricht. Und als dann die Konfirmation anstand, wollte ich doch aktiv dazu Ja sagen. Dann kann man so eine Entscheidung auch treffen. Wenn man nichts mitkriegt und ab der ersten Klasse Ethik hat, wie soll sich das Kind nachher wirklich für eine Kirchenmitgliedschaft entscheiden?
Welche Rolle spielt das Personal?
Beurer: Bei unseren Hauptamtlichen steht uns eine große Zurruhesetzungswelle bevor bis in die 30er Jahre. Wir wissen auch, dass wir zu wenig Nachwuchs haben und die freiwerdenden Stellen nicht mehr alle besetzen können. Wir können ja nicht die theologische Fakultät verdoppeln oder verdreifachen. Und selbst wenn wir das könnten, hätten wir nicht die Studenten dafür. Da treffen wir eigentlich mit den Zurruhesetzungen genau die minus 30 Prozent, die wir bei den Finanzen aufgrund der Steuerrückgänge haben werden. Da müssen wir gar nicht aktiv kürzen. Wir können weiterhin die Personen einstellen, die ihren Studienabschluss haben und die Voraussetzungen erfüllen. Und bei der Verwaltung sind die Strukturen ähnlich.
Steinebrunner: Der Pfarrberuf hat schon seine besonderen Herausforderungen. Arbeit auch an den Wochenenden, verfügbar sein, ungeregelte Arbeitszeiten. Es ist nicht mehr so beliebt, Pfarrer oder Pfarrerin zu werden. Dazu gehört schon auch eine Berufung.
Wäre ja ein Tipp für jemanden, der noch unentschlossen ist?
Steinebrunner: Die Kirche wirbt schon lange um Nachwuchs. Die Arbeit wird ja nicht weniger, auch wenn es weniger Kirchenmitglieder sind. Deshalb müssen wir uns fragen: Wie kommen wir mit 30 Prozent weniger Personal aus? Wie verteilen wir die Arbeit auf die Gemeinden in den Regionen? Vernetzungen und Kooperationen werden zunehmend wichtig sein.
Und das Problem mit den Gebäuden?
Beurer: Man schaut sich die Finanzen an und fragt sich: Wie viel kann ich davon nachhaltig rausnehmen und in Gebäude investieren? Wie viele Gebäude kann ich nach dem Betrag noch nachhaltig betreiben? Und sie bis 2040 wahrscheinlich auch noch klimaneutral zu kriegen.
Wie bekommt man so alte Gemäuer wie Kirchen klimaneutral?
Steinebrunner: Das ist das Problem. Manche werden vielleicht die Kirche nur im Sommer nutzen ohne Heizung und im Winter für die Gottesdienste ins Gemeindehaus gehen.
Beurer: Womöglich Photovoltaik aufs Dach, das ist auch denkbar.
Also dass künftig zum Beispiel auf der evangelischen Stadtkirche in Schwetzingen PV-Anlage montiert sind, ist keine Utopie?
Steinebrunner: Nein, gar nicht. Aber das Denkmalamt macht noch nicht mit, die Landeskirche führt Gespräche und da scheint etwas in Bewegung zu kommen. Das wäre sinnvoll, es sind ja große Flächen bei den Kirchen vorhanden.
Beurer: Die Kirchen würde das interessieren. Die Überlegungen gehen schon dahin, dass man die Kirchengemeinden möglicherweise verpflichtet, alles, was möglich und zulässig ist, mit PV zu belegen.
Die Reduktion ist ja nur ein Teil des Strategieprozesses . . .
Steinebrunner: Ja, das eine Thema ist in diesem Prozess das Reduzierungsthema, aber das andere, noch wichtigere ist, finde ich, dass wir wenig Leute erreichen. Wir haben ja eine Botschaft zu verkünden. Und wir erreichen nicht die, die wir erreichen wollen. Und deswegen ist der Prozess auf jeden Fall auch Transformation. Wir sagen, es ist sinnvoll zu glauben, es bereichert das Leben, es gibt Orientierung, verbindet uns miteinander. Wir haben eine gute Botschaft weiterzugeben. Und das kann nicht daran scheitern, weil zum Beispiel ein Gebäude nicht mehr zur Verfügung steht.
Ist es nicht so, dass die Leute gar nicht mehr wissen, was die Kirche eigentlich leistet?
Steinebrunner: Das Problem ist, dass es sich vielen Menschen nicht mehr erschließt, warum das wichtig sein könnte. Wie gesagt, wir erreichen nicht die vielen Menschen, die wir gerne erreichen würden. Menschen ändern sich, brauchen Unterschiedliches. Deswegen gibt es viele neue Formate, zum Beispiel die Tauffeste am See, die wir jetzt machen, wo die Leute ganz niederschwellig sagen, komm wir machen jetzt gemeinsam „große Party“ sozusagen und lassen unser Kind auch taufen. Wir müssen schon mal als Kirche ganz anders auf die Leute zugehen, weil wir ganz woanders anfangen als frühere Generationen. Wir sind mit Kirche aufgewachsen und in ihr sozialisiert. Menschen mit diesen Erfahrungen gibt es viel weniger. Menschen treten aus, weil sie sagen, was hat Kirche mit mir zu tun?
Wirken sich die Skandale in der katholischen Kirche eigentlich auch auf die evangelische Seite aus? Machen die Leute da keinen Unterschied?
Steinebrunner: Da machen die Menschen oft keine Unterschiede und da besteht großer Druck. Auch bei uns gibt es leider Dinge, die nicht in Ordnung sind, auch bei uns gibt es Missbrauch, aber nicht in dem Maße. Und das muss transparent aufgearbeitet werden. Wir sind als Kirchen in einem Boot. Und müssen Vertrauen zurückgewinnen. Ein Ziel unseres Strategieprozesses ist als Kirche ansprechbar und präsent zu sein. In den Gemeinden ist es wichtig, dass da ein Ansprechpartner ist, „ein Gesicht“, dass die Menschen wissen: Wer ist für mich zuständig und ansprechbar?
Da fällt mir Schwetzingens Pfarrer Steffen Groß ein. Der stellt jeden Samstag seinen Stuhl auf die Kleinen Planken raus und unterhält sich mit den Leuten . . .
Steinebrunner: Ja, das ist super, genau so etwas, das sind neue Formate. Das fing in Corona-Zeiten an. Das ist genau diese Transformation: Wie kommen wir an die Menschen noch ran? Nicht anbiedern, sondern nur, wir sind da, wir sind ansprechbar.
Welche Rolle spielen solche neuen Formate wie der Online-Gottesdienst „For Your Soul“ in Schwetzingen?
Steinebrunner: Das ist wichtig, dass wir uns als Kirche noch einmal neu aufstellen. Neue Formate ausprobieren, das sind mal große Klickzahlen und mal nicht die Massen, aber es sind wichtige Beiträge für die Vielfalt, in der wir gute Botschaft für ganz unterschiedliche Menschen weitergeben möchten.
Zurück zum Personal. Wenn es künftig weniger Hauptamtliche gibt, wird das Ehrenamt immer wichtiger, oder?
Beurer: Die Idee bei der Transformation ist nicht, dass man alle Aufgaben mit Ehrenamtlichen ausführt. Aber dass man in der Region schaut, was machen die in Wiesloch gleichwie in Walldorf? Können die das nicht miteinander machen?
Steinebrunner: Die Kräfte bündeln. Nicht alle müssen das Gleiche machen. Das fällt den Gemeinden noch schwer, zu sagen: Das gibt es nicht mehr in meiner Kirche, das finde ich aber zum Beispiel in der Nachbargemeinde in Oftersheim.
Wie ist es mit der Bereitschaft, ein Ehrenamt zu übernehmen?
Beurer: Es wird immer wertvoller. Die langfristige Erfahrung ist schon, dass es weniger wird. Das sieht man ja schon bei den Kirchenwahlen. Das ist keine Entwicklung der vergangenen zwei, sondern eher zehn Jahre.
Steinebrunner: Wir haben in unserer Strategiegruppe, die den Prozess in unserem Bezirk vorbereitet, ganz bewusst junge Leute aus den Gemeinden drin, Ehrenamtliche, wenige aus unserem bezirklichen Leitungsgremium. Wir wollen diejenigen mitreden lassen, um deren Zukunft es geht: Überlegt doch mal, wie wir es machen können. Die Angebote müssen nicht in jeder Gemeinde sein, wir werden mehr regional denken. Der Jugendchor muss nicht nur für Schwetzingen sein, er kann auch ein Angebot für die Region sein.
Also ähnlich wie bei den Katholiken mit der Seelsorgegemeinschaft?
Steinebrunner: Die Gemeinden sind schon noch selbstständig bei uns. Es wird sich aber zeigen, dass das Personal auch in die Region hinein berufen wird. Es gibt nicht mehr nur mein Pfarrer oder meine Pfarrerin, sondern es sind auch Pfarrer und Pfarrerinnen der Region. Das wird über Dienstgruppen geregelt, die sich verbindlich absprechen und Arbeit aufteilen. Zum Beispiel die Region Nordwest mit den sechs Gemeinden um Schwetzingen. Für die Gemeinden ist klar: Wir sind gemeinsam verantwortlich für die Region.
Beurer: Quantitativ ist es aber ein Riesenunterschied zu den Katholiken. Wenn die Entwicklung so läuft, dann haben wir auch in der Südlichen Kurpfalz für 20 Pfarreien noch 20 Pfarrstellen und Diakonenstellen dazu. Die Stellen gibt es. Daher werden wir das hinbekommen: Jede Gemeinde hat ein „Gesicht“.
Wie wichtig ist die Ökumene?
Steinebrunner: Ökumene ist sehr wichtig. Aber wir sind in diesem Prozess nicht zeitgleich unterwegs. Gemeinsame Gebäudenutzungen wäre ein wichtiges Thema. Wir sind gut im Gespräch, aber es ist eben auch mühsam, Lösungen zu finden. Es ist heutzutage nicht vermittelbar, warum wir nebeneinander herlaufen. Deshalb werden wir als Kirchen im guten Austausch miteinander bleiben und schauen, was gemeinsam geht.
Ein Video mit Dekanin Annemarie Steinebrunner gibt es unter www.schwetzinger-zeitung.de