Rhein-Neckar-Zeitung - Heidelberger Nachrichten, 02.01.2023

 

Auch zum Jahreswechsel für die Menschen da

Die Bahnhofsmission ist an jedem Tag offen – Hierher kommen Leute, die oft keine Wohnung und keine Angehörigen haben – Rückblick auf ein bewegtes Jahr

Von Marion Gottlob

Daniel Knee sieht das nüchtern: „Für mich ist Silvester ein Tag wie jeder andere auch.“ Aber doch nicht so ganz. Der stellvertretende Leiter der ökumenischen Bahnhofsmission Heidelberg war dieses Mal überglücklich, dass er nach den Corona-Maßnahmen der Vorjahre die Einrichtung wieder für Gäste öffnen durfte, gerade an Silvester. „Zwei Jahre lang konnten wir den Gästen nur an der Tür einen Kaffee geben“, berichtet er. „Nun finden Menschen in Einsamkeit oder Not bei uns wieder einen Ort, an dem sie willkommen sind.“

„Bedingungslos willkommen!“ – So lautet das Motto der Bahnhofsmission. „Und wir nehmen das ernst“, betont Knee. Hier finden etwa Reisende in Not rasche und unbürokratische Hilfe. Hier können aber auch Menschen anklopfen, die an anderen Orten abgewiesen werden. „Die Bahnhofsmission ist ein Seismograf der Gesellschaft. Hier werden Probleme zuallererst sichtbar, früher als an anderen Orten“, weiß Knee. Einsame finden bei der Bahnhofsmission Gemeinschaft, fast so etwas wie eine Familie. „Hier ergeben sich Freundschaften“, sagt Mitarbeiter Paul Bednarz.

Das gilt auch für das Jahresende. An Silvester ist es zwar fast 20 Grad Celsius warm. Als die Bahnhofsmission um 10 Uhr öffnet, ist dennoch schnell jeder Platz besetzt. Für Knee keine Überraschung: „Für die Menschen ist unser Treff am geschmückten Weihnachtsbaum wichtig – viele sind obdachlos, sie haben weder ein Zuhause noch einen Baum.“

„Ich komme jeden Tag“, erklärt ein Besucher. „Hier treffe ich Menschen, mit denen ich reden kann.“ Er und sein Bekannter sind Stammgäste und blicken an Silvester auf das vergangene Jahr zurück. Sie denken an Gäste, die nicht mehr kommen. Eine langjährige Besucherin ist inzwischen in einem Pflegeheim. Die Bahnhofsmission hat ihre Not erkannt und bei der Suche nach einem Platz geholfen. Auch andere Besucher werden vermisst. „Vermutlich sind sie verstorben“, fürchtet der Gast.

Nicht nur die Besucher blicken auf das vergangene Jahr zurück, sondern auch Daniel Knee: „2022 war ein Rekordjahr.“ In Spitzenjahren zuvor zählte man nie mehr als 28 000 Kontakte, im Corona-Jahr 2021 „nur“ 15 000, doch im vergangenen Jahr kam man auf 42 000. Der Grund dafür liegt vor allem in dem russischen Angriff auf die Ukraine. Menschen, die vor dem Krieg flohen, suchten unter anderem im Ankunftszentrum in Patrick-Henry-Village (PHV) Zuflucht. Häufig kamen sie mit dem Zug nach Heidelberg und wussten dann nicht, wie sie in die Landeseinrichtung kommen. An einem Morgen stand etwa plötzlich eine Gruppe von 50 Ukrainern vor der Tür, insgesamt kam die Bahnhofsmission auf 12 500 Kontakte mit Ukrainern.

Darunter war auch eine gehörlose Frau. Mit Händen und Füßen habe sie Knee berichtet, dass sie auf der Flucht ihre Familie verloren habe. Nach einer Nacht in PHV kehrte sie zur Bahnhofsmission zurück und bat erneut um Hilfe. Knee und die Frau machten schließlich ihre Familie in Polen ausfindig. „Wir haben die Fahrt nach Polen organisiert“, erzählt er. „Als ich sie zum Zug brachte, hat sie mich so fest umarmt, als wollte sie mich nie wieder loslassen. Ich musste weinen – das ist mir nur selten passiert.“

Beim Rückblick denkt Knee auch an das Neun-Euro-Ticket. „Das war toll, weil es vielen Menschen Mobilität ermöglichte.“ Aber es brachte auch Nachteile mit sich: So gab es am Hauptbahnhof zu dieser Zeit Baustellen an den Aufzügen wie Rolltreppen. Die Anzeige-Tafeln zeigten häufig falsche Infos an. „Die modernen Tafeln sind klasse, aber die fehlerhaften Infos machen uns viel Arbeit, weil wir Reisende dann auf das richtige Gleis führen müssen“, so Knee.

Für diesen Silvestertag hat sich auch Kevin Pietrowski zum Dienst eintragen lassen. Mit 16 Jahren ist der Azubi für Kfz-Mechatronik der Jüngste im Team der 28 ehrenamtlichen Mitarbeiter. An Wochenenden geht er gerne tanzen, davor hilft er regelmäßig in der Bahnhofsmission. Er spricht Polnisch, versteht Russisch und Ukrainisch – was sehr wichtig ist: „Mit einem polnischen Gast unterhalte ich mich in seiner Muttersprache. Die Alltagsgespräche tun ihm gut.“

Viele Besucher haben derzeit massive Probleme mit den steigenden Preisen. Das gilt aber auch für die Bahnhofsmission: „Wir leisten mehr als früher und haben gleichzeitig höhere Ausgaben“, so Knee. Träger der Bahnhofsmission sind die Evangelische Stadtmission und der Caritas-Verband. Es gibt Zuschüsse von Stadt und Land. Vor allem aber finanziert sich die Mission über Spenden. So bittet Knee dringend um Geldspenden, aber auch um Kaffee und Milch: „Wir können die Welt nicht retten – aber wir können jeden Tag für andere Menschen da sein.“

Info: Bahnhofsmission am Hauptbahnhof, Willy-Brandt-Platz 5, Montag-Freitag 8-18 Uhr, Samstag, Sonntag, Feiertage 10-18 Uhr. Information unter Telefon 06221 / 23824 oder E-Mail an heidelberg@bahnhofsmission.de.