Hockenheimer Tageszeitung, 27.12.2022

 

Eine „gefährliche Kantate“

Zweiter Weihnachtsfeiertag: In der Stadtkirche hält Prälat Dr. Traugott Schächtele seinen letzten Gottesdienst, bei dem ein besonderes Musikstück zu Gehör gelangt

Von Volker Widdrat

Mit dem Eingangschor „Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben“ begann der Gottesdienst am zweiten Weihnachtstag in der voll besetzten evangelischen Stadtkirche. Im Mittelpunkt stand die Aufführung der sechsten Kantate des Weihnachtsoratoriums von Johann Sebastian Bach. Unter der Leitung von Kirchenmusikdirektor Detlev Helmer musizierten das Schwetzinger Vokalensemble mit Gastsängern und die Kurpfalzphilharmonie. Liturgie und Predigt gestaltete Prälat Dr. Traugott Schächtele. Es war der letzte Gottesdienst für den Vertreter des Kirchenkreises Nordbaden, der im Frühjahr in den Ruhestand geht.

Die sechste Kantate, erstmalig am Epiphaniastag (6. Januar) des Jahres 1735 in Leipzig aufgeführt, „Frühe in St. Nicolai und Nachmittage in St. Thomae“, wie Bach selbst schrieb, war der Abschluss des gesamten Weihnachtsoratoriums über zehn Jahre hinweg in den Gottesdiensten in Schwetzingen.

Die Gemeinde nahm die Einladung an mit dem Lied „Herbei, o ihr Gläubigen“. Seit jener Nacht auf den Hirtenfeldern vor Bethlehem gibt es keinen Wunsch, auf dessen Erfüllung Menschen sehnlicher warten als den auf Frieden. Der gemeinsam gesprochene Weihnachtspsalm leitete über zum Eingangsgebet. „Sie müssen in Bewegung bleiben, wie andere an Weihnachten auch“, schmunzelte Schächtele und bat die Gemeinde um Antwortverse aus dem Lied „Fröhlich soll mein Herze springen“. Der Zuspruch der guten Nachricht richtete sich an die Christengemeinschaft. „Sie werden aus Saba alle kommen, Gold und Weihrauch bringen und des Herrn Lob verkündigen“, heißt es so im Buch des Propheten Jesaja.

„In ihr geht’s ums Ganze“

Es sei eine „gefährliche Kantate“, die nun zu hören sei, rief Schächtele von der Kanzel. Kein Engelschor, keine Hirten, die sorglos ihre Schafe zurücklassen können, kein Stall, der sich am Ende doch noch finden lässt: „In dieser sechsten Kantate ist alles anders. In ihr geht’s ums Ganze. Um eine Auseinandersetzung im ganz großen Stil.“ Alle Kantaten vorher hätten „irgendwie nur vorbereitet“.

Die Gemeinde hörte nach dem Eingangschor des Vokalensembles die Arien, gesungen von Cornelia Winter (Sopran), Ingo Wackenhut (Tenor), Gabriele Schneider (Alt) und Matthias Eschli (Bass). Es spielte die Kurpfalzphilharmonie mit Trompeten-Trio, Ralf Krumm und Markus Dietrich (Pauken) und Alexander Levental (Orgel). Der Abschluss des Weihnachtsoratoriums handelt vom Besuch der Weisen aus dem Morgenland. Trompeten und Fanfaren künden vom Kampf gegen die Glaubensfeinde. Der listige und falsche König Herodes fordert, nach dem Kind zu suchen, damit er es auch anbeten kann. Die Weisen finden das Kind in seiner Krippe und schenken ihm Gold, Weihrauch und Myrrhe. Der neugeborene Heiland siegt schließlich.

Bachs Textschreiber für die musikalische Wiedergabe dieses großen Themas war vermutlich Christian Friedrich Henrici, der sich selbst lange hinter dem Pseudonym Picander versteckt hielt. Ganz genau wissen wir das nicht. Das Ziel der anrührenden Geschichte sei klar, führte der Prälat in seiner Predigt aus: „Die Bedeutung dieses Kindes endet nicht an der Stadtmauer von Bethlehem. Sie bezieht sich auf die ganze Welt.“ Selbst der Himmel sei in Bewegung geraten angesichts der Geburt dieses Kindes. Doch es gehe auch um die Rolle des Königs Herodes: „An ihm zeigen sich die Abgründe menschlichen Machtstrebens. Er ist der Prototyp des bösen Herrschers. Herodes ist der Feind, der schnaubt, an ihm werden die scharfen Klauen des Feindes sichtbar.“

Die Herodesse unserer Zeit

Der letzte Teil der Kantate enthält eine ausführliche Siegesfanfare. „Das endzeitliche Drama ist zu Ende. Herodes hat ausgedient. Und mit ihm all diejenigen, die in seiner Nachfolge stehen“, meinte Schächtele. Es brauche nicht viel Fantasie, sich all die Namen in Erinnerung zu rufen, „die sich zu Handlangern des Bösen haben machen lassen“. In der Geschichte, in jedem Jahrhundert, in der Gegenwart, „in diesem zu Ende gehenden kriegserschütterten Jahr“. Im Kleinen finde man bei Herodes alles, „wodurch sich die Despoten der Gegenwart bis heute auszeichnen“, kritisierte der Geistliche: „Die Herodesse unserer Tage sitzen nur wenige Auto- oder Flugstunden von uns entfernt. Vor unserer Haustür. Sie stecken Journalisten ins Gefängnis, sie beschränken die Unabhängigkeit der Gerichte, sie führen Krieg, sie respektieren keine Grenzen.“

„Kommt und lasst uns Christus ehren“, sang die Gemeinde. Die Fürbitten waren für eine Welt, die nicht so ist, wie sie nach dem Willen Gottes sein soll. Dankbar für das Fest der Weihnacht erklang von allen Besuchern „Freue, freue dich, o Christenheit“. Nach dem Vaterunser stimmten die Christen das Lied „O du fröhliche“ an. Kirchengemeinderätin Hanna Schwichtenberg brachte den Spruch zum Tag aus Johannes 1,14: „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit.“

Ein besonderer Dank des Chores ging an Kirchenmusikdirektor Detlev Helmer. Vokalensemble, Solisten und Kurpfalzphilharmonie holten sich langanhaltenden Beifall der Gottesdienstbesucher ab. Prälat Dr. Traugott Schächtele dankte, dass er den zweiten Weihnachtstag noch ein letztes Mal habe mitgestalten dürfen und spendete den Segen. Der Schlusschoral aus dem Weihnachtsoratorium „Nun seid ihr wohl gerochen“ beendete den erfüllenden und herzlichen Gottesdienst in der Stadtkirche.