Mannheimer Morgen Stadtausgabe, 24.12.2022

 

Heilige Räume

Ganz persönliche Gedanken zur Funktion und Faszination von Gotteshäusern nicht nur zu Weihnachten. Sie werden gebraucht – auch wenn im kommenden Jahr wohl Kirchenschließungen diskutiert werden. Einige ungewöhnliche Kirchen stellen wir auf dieser Seite vor

An Heiligabend werden die Menschen wieder in die Kirchen strömen, dicht an dicht in den Bänken sitzen, manchmal sogar stehen. Christvesper, Krippenspiel, Weihnachtsoratorium, Lichterglanz, am Ende dann im Dunklen, nur im Kerzenschein, ein gemeinsames „Stille Nacht . . .“ – es ist der wundersame Zauber dieses Abends, dieses Gemeinschaftsgefühls, der besonders festlichen Aura, der vielen Gläubigen in der Zeit der Corona-Einschränkungen gefehlt hat und der dieses Jahr trotz kalter Kirchen sicher wieder für gut besuchte Gotteshäuser sorgt.

Manchmal ist es vielleicht ein Abschiedsbesuch. Das Evangelische Dekanat muss aus Kostengründen langfristig etwa ein Drittel seiner Kirchen aufgeben; zumindest wird kein Geld mehr in Bauunterhaltung gesteckt. Bei den Katholiken droht das auch, nur ist die Liste der betroffenen Gebäude noch nicht endgültig aufgestellt. Viele Gemeindehäuser wird es in ein paar Jahren ebenso nicht mehr geben.

Rastplatz für die Seele

Aber Kirchen abreißen? Bei diesem Gedanken sperrt sich etwas. Ralph Hartmann, der Dekan der Evangelischen Kirche in Mannheim, hat mal eingeräumt, dass da ein „Störgefühl“ einsetzt. Dennoch ist es schon passiert, klar, auch in Mannheim. 2012 fiel etwa die Kreuzkirche im Wohlgelegen.

Zumindest aus evangelischer Sicht sind Kirchen keine heiligen Räume, sondern weiter das Werk von Menschen. Katholiken messen der Weihe der Gebäude eine größere Bedeutung zu. Aber letztlich ist die theologische Sicht egal. Entscheidend ist, was die Menschen fühlen. Natürlich kann ein Gottesdienst immer dann stattfinden, wenn sich Gläubige dazu zusammenfinden – als Open-Air, in Scheunen, im Krieg im Feld, bei Verfolgung und Unterdrückung. Doch manchmal werden zu kümmerliche Verhältnisse, sofern der Anlass oder der Zeitpunkt sie nicht erzwingt, als unangemessen empfunden. Gottesdienst ist Feier, ist Fest, es geht um Sakramente und Rituale, und die brauchen einen besonderen Rahmen, einen besonderen Raum, und danach verlangen und suchen viele Menschen. Nicht ohne Grund gibt es zahlreiche erfolgreiche Spendenprojekte für die Restaurierung barocker Altäre, die Sanierung von Gotteshäusern oder für die Neuanschaffung von Glocken.

Das zeigt die Sehnsucht nach besonderen, nach heiligen Räumen. Ob in Mannheim oder im Urlaub – wer eine Kirche betritt, spürt plötzlich, wie sich die Schritte der Menschen verlangsamen, wie die Hektik aus ihnen weicht, wie sie zur Ruhe kommen, aber auch wie man selbst innehält. Auch wer sich nicht vor jeder Jesusfigur bekreuzigt oder vor jedem Altar niederkniet, der spürt doch, dass er hier an einem besonderen Ort ist. Mag draußen Trubel sein – hier herrscht Stille.

Kirchen sind nur auf den ersten Blick lediglich der Platz, wo Gottesdienste gefeiert, Andachten gehalten, Sakramente gespendet und ganz besondere Wendepunkte im Leben wie Taufe, Hochzeit, Trauer begangen werden. Auch wenn kein Pfarrer da ist, keine Orgel spielt, ermöglichen sie die innige, die ganz persönliche Begegnung mit Gott als Orte der inneren Einkehr, der Entschleunigung in einer hoch beschleunigten Zeit, als Rückzugsorte und Refugien der Ruhe, als Rastplatz für die Seele. Wer Sehnsucht nach Stille hat, der kommt hierher.

Geborgenheit und Gemeinschaft

Kirchen können auch Kraft- und Zufluchtsorte sein. Nach schlimmen Unglücken, Amokläufen oder Terrorakten, Momenten der seelischen Not, des Entsetzens und Schreckens pilgern Menschen in Gotteshäuser – selbst wenn sie längst aus der Kirche ausgetreten sind. Sich in diesem Moment zu versammeln, allein durch das Zusammensein in diesem besonderen Raum Trost, vielleicht gar Ermutigung in all ihrer Erschütterung zu finden, gibt auch jenen Kraft, die sich nicht – oder nicht mehr – als Gläubige sehen.

Das liegt nicht nur daran, welche Wirkung das Wort Gottes entfalten, was die Musik ausstrahlen und die Gemeinschaft der Gläubigen an Gefühl der Geborgenheit zu vermitteln vermögen. Auch der besonderen Ästhetik und Atmosphäre einer Kirche kommt eine große Bedeutung zu. Mag sie romanisch-wuchtig sein, über barock-überbordende Fülle verfügen oder modern mit nacktem Beton und Glas gestaltet – einen besonderen Eindruck hinterlassen Kirchen immer, egal in welcher Zeit, in welchem Baustil sie entstanden sind. Anders und einzigartig sind sie immer und mit ihrer Ausstrahlung, ihrer oft enorm bildstarken Inszenierung eben Ausdruck ihrer besonderen Funktion, ob man das nun als heilig betrachtet oder nicht.

Und nicht nur das. Jede Generation hat mit den jeweils besten Baumaterialien und Baumeistern hoch kreativ ihre jeweiligen Kirchen gebaut. Ob mit brutalem Beton oder verspielter Zier hübscher Rokokoengel – stets handelt es sich nicht allein um sakrale Räume, sondern auch um ein Kunsterlebnis und ein Kulturgut, einen Schatz der Allgemeinheit, der sich langfristig natürlich nur mit gemeinsamem gesellschaftlichem Engagement erhalten lässt.

Aber das lohnt sich. Schließlich legen Kirchen Zeugnis ab über die Geschichte – in Mannheim daran erkennbar, dass sie eben aus der Blütezeit des Barock, der Aufschwung-Ära zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder eben der florierenden Wirtschaftswunderzeit stammen. Sie sind damit auch Gedächtnisorte, oft voll prachtvoller Kunst. Die spitzen Türme stellen nicht nur Ausrufezeichen Gottes in einer immer säkulareren Welt dar, sondern auch ganz profan Orientierungspunkte mit prägender Wirkung auf die Silhouette von Dörfern und Städten, sind wichtige Sinnbilder für Heimat und Identität. Ohne sie würde etwas fehlen. Und das gilt nicht nur für die Kirchtürme und für die Optik der Orte. Polizei, Post, Bank, Dorfschule, Tante-Emma-Laden und Kirche haben früher einen Ort ausgemacht. Geblieben ist meist nur noch – noch! – die Kirche, der Rest wurde nach und nach geschlossen. Wo gibt es sonst heute noch öffentliche Räume, Platz für Begegnung von mehreren Generationen, ohne Zwang zum kommerziellen Konsum? In der Kirche.

Insgesamt werden auf der Doppelseite zwölf Kirchen vorgestellt (Anmerkung des Pressespiegelerstellers).