„Wir müssen als Kirche lauter werden, weil wir uns oft zu sehr verstecken“
Im Interview: Buchens evangelische Pfarrerin Julia Lehner spricht über die Kernbotschaften des Fests und erklärt, warum man die Weihnachtsbotschaft immer wieder hören sollte
Seit 15 Monaten ist sie im Amt: Pfarrerin Julia Lehner steht der evangelischen Kirchengemeinde in Buchen vor und erklärt im großen Weihnachtsinterview der Fränkischen Nachrichten, welche Kernbotschaften aus ihrer Sicht die wichtigsten sind.
Von Michael Fürst
Frau Lehner, gewinnt Weihnachten als Fest des Friedens in Zeiten eines Krieges in Europa noch einmal mehr an Bedeutung?
Pfarrerin Julia Lehner: Ja, dieser These würde ich auf jeden Fall zustimmen, weil in diesem Jahr einfach noch einmal deutlich geworden ist, wie zerbrechlich Frieden ist. Als Kirche können wir mit der Botschaft von Weihnachten da etwas dagegensetzen.
Welche Kernbotschaften von Weihnachten sind es wert, sich jedes Jahr aufs Neue ins Gedächtnis zu rufen?
Lehner: Ich glaube, dass wir jedes Jahr die Weihnachtsbotschaft anders hören, weil wir jedes Jahr als jemand anderes, mit anderen Sorgen und Nöten, in die Kirche gehen. Wenn man Gottes Worte nur einmal hört, hat man sie noch nicht verinnerlicht. Solche Botschaften müssen immer wieder neu in das Leben der Menschen und deren jeweilige Situation hineingesprochen werden.
Heißt das, dass man die Weihnachtsbotschaften je nach Lebenssituation immer wieder anders verstehen kann und muss?
Lehner: Ja. Ganz viele dieser hoffnungsvollen Worte, die wir in der Weihnachtszeit immer wieder hören, sind Gottes Worte, die in bedrohliche Situationen hineingesprochen wurden. Konkret: Ein junges Mädchen ist ungewollt schwanger geworden und muss in einem Stall ihr Kind zur Welt bringen. Das ist ja eine unglaublich prekäre Lebenssituation. Bei Jesaja heißt es in Kapitel 9, Vers 1 bis 6, in dem es um die Belagerung Jerusalems und die anschließende Verschleppung des Volkes Israel, geht: „Das Volk, das im Finsteren wandelt, sieht ein großes Licht.“ Für mich heißt das, dass die Weihnachtsbotschaft in schwierigen Zeiten noch einmal eine ganz andere Kraft entfaltet als in Zeiten, in denen ich keine Sorgen und Nöte verspüre. Ein Beispiel: Menschen erleben die Worte der Hoffnung immer dann sehr intensiv, wenn jemand mit dem Tod eines geliebten Menschen konfrontiert ist. Dann wird es umso wichtiger, sich darauf zu besinnen, dass wir als Christen die Hoffnung in uns tragen, mit dem Tod auf Erden nicht am Ende zu sein.
Warum ist es wichtig, sich den Glauben auch dann immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, wenn es einem gut geht, und wie vermitteln Sie das Ihrer Kirchengemeinde?
Lehner: Das, was in guten Zeiten nicht trägt, ist eine ganz schlechte Grundlage, um in schweren Zeiten zu tragen. Das heißt: Wenn ich mich in guten Zeiten mit Gott und dem Glauben auseinandersetze, trägt mich das auch in schwierigen Zeiten. Ich versuche, diesen Gedanken schon unseren Konfirmanden zu vermitteln. Gott ist nicht nur derjenige, der uns trägt, wenn es uns schlecht geht. Gott ist auch der, der uns mit Gutem segnet.
Welche ist für Sie ganz persönlich die wichtigste Weihnachtsbotschaft?
Lehner (überlegt kurz): Dass so viele unterschiedliche Menschen an der Krippe zusammenkommen; da gibt es auch Konfessions-übergreifend nichts Trennendes: Alle versammeln sich an der Krippe bei diesem kleinen Kind. In all ihrer Unterschiedlichkeit sind alle bei Gott willkommen. Aus so einem „Zusammen“ kann Frieden entstehen.
Beim Begriff „Konfessions-übergreifend“ drängt sich die Frage auf: Gibt es eigentlich Unterschiede zwischen einer katholischen und einer evangelischen Weihnacht?
Lehner: Es gibt sicher kleine Unterschiede in der Liturgie und in der Art, wie der Weihnachtsgottesdienst gefeiert wird. Aber in der Kernbotschaft besteht kein Unterschied. Aber ganz ehrlich: Um die Frage abschließend beantworten zu können – da war ich an Weihnachten zu selten in einem katholischen Gottesdienst (lacht).
Wie ist denn grundsätzlich die Zusammenarbeit zwischen evangelischer und katholischer Kirchengemeinde hier in Buchen?
Lehner: Ich finde gut. Wir haben im Advent jeden Mittwoch ökumenische Adventsandachten gefeiert. Schon seit Jahren feiern wir an Pfingsten nicht nur mit der katholischen Kirche zusammen, sondern auch mit der neuapostolischen Kirche. Wir sind da miteinander auf einem guten Weg.
Gibt es weitere geplante gemeinsame Projekte der unterschiedlichen Kirchengemeinden vor Ort?
Lehner: Die Zusammenarbeit im Advent oder der Passionszeit bleibt bestehen und soll gestärkt werden. Wir sind gerade dabei, uns zu überlegen, welche neuen Projekte wir gemeinsam ausprobieren können. Eine Idee ist, die gemeinsame Kinder- und Jugendarbeit zu intensivieren. Ich finde es wichtig, dass Kinder und Jugendliche überhaupt Berührung mit Kirche bekommen. Da ist es erst einmal egal, ob das von katholischer oder evangelischer Seite ausgeht.
Zurück zum Kernthema Weihnachten: Sie sprachen „vom Volk, das im Dunkeln wandelt“. Lässt sich das etwas überspitzt formuliert auf unsere Gesellschaft herunterbrechen? Für immer mehr Menschen besteht der Sinn von Weihnachten darin, gut zu essen, groß zu schenken und auszuspannen. Wie nehmen Sie diese Entwicklung wahr und welche Möglichkeiten gibt es für die Kirche, diesem Trend entgegenzuwirken?
Lehner: Grundsätzlich möchte ich es nicht verurteilen, die Weihnachtstage dazu zu nutzen, von dem ganzen Alltagsstress wegzukommen. Für mich ist auch das ein Teil von Weihnachten: innehalten, um darüber nachzudenken, was mir wirklich wichtig ist im Leben. Natürlich ist es keine gute Entwicklung, Weihnachten zu einem Fest unter dem Motto „größer, mehr, besser“ werden zu lassen. Dann kommen wir an einen Punkt, an dem uns das auch nicht mehr guttut.
Inwiefern?
Lehner: Wenn man drei Wochen hin- und herrennt, damit an Heilig Abend alles perfekt ist, und dem Lieben das Geschenk unterm Baum dann doch nicht gefällt, dann ist das alles nicht zielführend. Darauf kommt es an Weihnachten nämlich gar nicht an. Schenken gehört aber auch dazu, weil man damit anderen Menschen eine Freude macht. Das ist für mich wieder ein Ausdruck von „wir rücken näher zusammen“ und gleichzeitig eine Erinnerung an den zentralen Aspekt von Weihnachten: Gott schenkt sich den Menschen als Kind in der Krippe. Deshalb tue ich mir schwer damit, grundsätzlich alle Entwicklungen zu verurteilen. Ich wünsche mir aber schon, dass die ursprüngliche Weihnachtsbotschaft wieder lauter und dadurch besser wahrgenommen wird.
Als im März 2020 Corona „begann“, war zunächst viel von „Nächstenliebe neu entdecken“, „Rücksichtnahme“ und „Hilfsbereitschaft“ die Rede. Irgendwie hat man knapp zwei Jahre später aber den Eindruck, dass davon gar nichts geblieben ist. Teilen Sie diese Einschätzung?
Lehner: Wir haben da schon ein gesellschaftliches Trauma durchlebt. Am Anfang wurden ganz viele Kräfte frei, die uns beim „Wir schaffen das gemeinsam“ angetrieben haben. Diese Kräfte sind dann geschwunden. Corona hat etwas mit uns gemacht. Wir werden da noch lange dran zu knabbern haben. Der Umgang mit anderen Menschen ist oft noch anders als vor der Pandemie - und wird es manches Mal auch bleiben.
Was empfinden Sie als „anders“?
Lehner: Man überlegt immer noch ganz genau: Gebe ich dieser Person jetzt die Hand oder nicht? Möchte die Person das? An einem Sterbebett erreiche ich mehr durch das Handhalten als durch sprechen. Auch am Grab kann eine Berührung mehr Trost spenden als alles andere. Berührungen und Umarmungen sind wichtig. Aber da sind Barrieren geblieben!
Inwieweit kann das Weihnachtsfest auch dafür sorgen, dass wir wieder besser miteinander umgehen und diese „Ich, ich, ich“-Mentalität zumindest wieder etwas eingedämmt wird?
Lehner: Grundsätzlich müssen die Menschen erst einmal bereit sein, sich darauf einzulassen, dass Gott gerade nicht zu denen kommt, die nur an sich denken. Dafür steht Jesus immer für die Menschen ein, die am Rande der Gesellschaft stehen. Er möchte immer, dass Menschen aufeinander zugehen. Für mich gibt es im Christentum keine Ethik, die andere Menschen ausschließt. Das heißt nicht, dass Jesus Selbstsorge verurteilt, keineswegs. Aber meines Erachtens können wir von Jesus immer wieder neu lernen uns auch von den Sorgen und Nöten unserer Mitmenschen berühren und bewegen zu lassen.
Aber genau darin liegt doch die Aufgabe der Kirche, diese Botschaft noch lauter hinaus zu den Menschen und in die Gesellschaft zu rufen.
Lehner: Wir müssen als Kirche da gewiss lauter werden, weil wir uns oft zu sehr verstecken mit unserer guten Botschaft. Aber Veränderungen müssen im Kleinen beginnen.
Zum Beispiel?
Lehner: Ich selbst kann nur mein eigenes Verhalten verändern, nicht das der Gesellschaft. Deshalb muss die Botschaft Gottes zunächst im Kleinen gut hörbar sein. Das ist aber keine Botschaft, die von oben herab mit erhobenem Zeigefinger proklamiert werden kann.
Ist das für Sie als Pfarrerin eine schwere Aufgabe, den erhobenen Finger nicht zu zeigen?
Lehner: Das ist nicht nur an Weihnachten, sondern jeden Sonntag eine Herausforderung. Ich versuche, in meinen Predigten stets herauszustellen, was mir das Wort Gottes bedeutet und was ich daraus ziehe. Ich bin der Überzeugung, dass sich die Menschen da besser anschließen können. Aber diese Herangehensweise ist fordernder als einfach nur den Zeigefinger zu heben (lacht).
Aber hat es in dieser Hinsicht die evangelische Kirche nicht leichter als die katholische, weil sie „weltlicher“ ist und sich mehr „in der Gesellschaft“ bewegt?
Lehner: Wir haben ein anderes Amtsverständnis, und das macht es vielleicht schon leichter. Ich übe als Pfarrerin einen Dienst in der Gemeinde aus, zu dem ich von der Gemeinde beauftragt bin. Ich habe kein besonderes Amt durch die Priesterweihe, sondern bin eigentlich ein Gemeindeglied wie jede andere. Für manche Menschen ist es auch wichtig zu sehen, dass wir evangelischen Pfarrer und Pfarrerinnen eine Familie haben. Wir können also auch über Probleme predigen, die in einer Beziehung auftreten. Das ist vielleicht ein wenig authentischer.
In allen Kommunen gab es in der Vorweihnachtszeit die Diskussion um die Weihnachtsbeleuchtung. Wie haben Sie diese verfolgt, und wie wichtig ist Ihnen Weihnachtsbeleuchtung?
Lehner: Unser Weihnachtsbaum am Gemeindehaus hat dieses Jahr Sterne und keine Beleuchtung, der in der Kirche aber schon. Ich finde es ein zeichenhaftes Handeln, wenn man in dieser Zeit des Energieengpasses auf Weihnachtsbeleuchtung verzichtet, auch wenn Weihnachten das Fest des Lichts ist.
Wie werden Sie selbst den Heiligen Abend und die Feiertage verbringen?
Lehner: Mit Arbeit (lacht). Spaß beiseite: Meine Mama, mein Bruder, meine Tante und mein Onkel kommen. Wir werden gemütlich bei Raclette feiern. Am ersten Weihnachtsfeiertag fahren wir nach dem Gottesdienst zu den Eltern meiner Frau.
Welches ist Ihr größter Weihnachtswunsch für 2022?
Lehner: Ich wünsche mir, dass wir als Gesellschaft wieder enger zusammenrücken. Wir müssen wieder mehr auf das schauen, was wir gemeinsam schaffen können – und das ist eine Menge. Wir sollten zudem die Menschen nicht aus dem Blick verlieren, die im Moment in allen Bereichen zu kämpfen haben – auch und vor allem mit den gestiegenen Preisen. Die dürfen nicht hinten runter fallen.