Wertheimer Zeitung, 31.10.2022

 

Vorbild sein - über die eigene Kirche hinaus

Allerheiligen: Pfarrer erklären, wie Heilige neben der Volksfrömmigkeit auch beispielgebend sein können - Bitte um Fürsorge vereint

MAIN-TAUBER/MAIN-SPESSART. Es ist jedes Jahr ein beeindruckendes Bild und gleichzeitig ein Trost in der Dunkelheit. Ein Lichtermeer aus so genannten Seelenlichtern erhellt die letzten Ruhestätten der katholischen Kirchengemeinden in diesen ersten Novembertagen. An Allerseelen, dem 2. November, gedenken die Katholiken ihrer Verstorbenen.

Viele bringen ihre Kerzen allerdings bereits am 1. November, an Allerheiligen, zu den Friedhöfen. In der Praxis verschmelzen die beiden Feste deswegen immer mehr. Tatsächlich aber gedenkt die Kirche an Allerheiligen der Heiligen - und zwar nicht nur der vom Papst offiziell heilig Gesprochenen, sondern vor allem auch der Menschen, die ihren Glauben still, manchmal im Hintergrund aber mit großer Strahlkraft gelebt haben.

Klomp: Nicht verwerfen

Während die Katholiken rund um Wertheim in ihren Kirchen mit Wortgottesdiensten und Eucharistiefeiern den Tag begehen, wird das Gedenken in der evangelischen Kirche nicht zelebriert. Wibke Klomp, Dekanin des Evangelischen Kirchenbezirks Wertheim rät, auch als Protestant Allerheiligen nicht vorschnell zu verwerfen.

Der Heilige St. Laurentius für Marktheidenfeld oder der Erzengel Michael in Lohr gehören zu den bekanntesten Heiligen mit regionaler Bedeutung. »Natürlich ist der heilige Michael wichtig, aber wir haben ja eine Fülle an Heiligen«, erklärt der Lohrer Pfarrer Sven Johannsen. Genau genommen gibt es im »Martyrium Romanum«, in dem seit dem 16. Jahrhundert Heiligenlisten geführt werden, rund 14 000 Selige und Heilige. «Alleine Johannes Paul II. hat ganze Hundertschaften gleichzeitig heilig gesprochen«, sagt Johannsen.

»Es geht an Allerheiligen aber nicht nur um die ganz großen Heiligen wie Michael oder Martin, sondern vielmehr auch um alle namenlosen Vorbilder, auch die, die gar nicht offiziell heilig gesprochen sind, die aber einen Weg mit und auf der Suche nach Gott gegangen sind, der sinnbildhaft ist. Eine Heiligkeit des Alltags sozusagen«, sagt Johannsen.

Madeleine Delbrêl sei so ein Beispiel. Geboren 1904 in Südfrankreich, aufgewachsen und geprägt von einer kirchenfernen Familie und dem Ersten Weltkrieg, verliebte sie sich während ihres Studiums in Paris in einen jungen Mann. Durch ihn kam sie als Atheistin dem Christentum näher. Trotz der Verlobung verließ er sie jedoch und wurde Dominikanermönch. »In einer Nacht hat mich Gott gefunden«, soll sie damals gesagt haben, berichtet Johannsen. In ihrem tiefen Schmerz fand sie die Quelle der Liebe und war fortan in der Sozialpastoral, in der Seelsorge im sozialen Dienst in Paris tätig, später stark engagiert im Bereich der französischen Arbeiterpriester und während des Zweiten Weltkriegs auch im Kampf gegen den Nationalsozialismus. Ihre Heiligsprechung läuft derzeit.

Weg zur Heilung finden

»Solche Menschen zeigen auch heute noch, wie man seinen Weg zur Heilung finden kann und einen Weg mit Gott geht, der Werteorientierung, Gerechtigkeit und Sinnhaftigkeit. Das ist der Grund, warum wir Allerheiligen feiern«, sagt Johannsen, den Delbrêls Geschichte ebenso berührt wie etwa Elisabeth von Thüringen - »eine meiner Lieblingsheiligen«.

Josef und Maria: Sie sind die wohl am häufigsten Verehrten in der katholischen Kirche. »Sogar Menschen, die sonst nicht in die Kirche gehen, sieht man vor der Marienfigur beten. Dies ist eine emotionale Beziehung und vor allem vielen Frauen steht Maria oft näher als der oft so ferne Gott«, so der Pfarrer.

Die Liste der Heiligen, die in der Region eine große Bedeutung haben, ist lang: Der Heilige Rochus von Montpellier natürlich, dem zu Ehren es noch immer den Rochustag am 16. August gibt, schließlich soll er die Stadt einst von der Pest verschont haben. Er findet sich wie auch der Heilige Sebastian auf dem Berg in der St. Valentinuskapelle. Beide sind übrigens Pest-Patrone - zuständig für Krankheiten und Seuchen - und so wundert es nicht, dass sie auch in der Coronapandemie wieder eine große Rolle spielten.

Wen in Marktheidenfeld definitiv jeder kennt: den Heiligen Laurentius von Rom, einer der meistverehrten Heiligen, der den Kirchenschatz unter den Armen verteilte und nach seiner Hinrichtung bis heute als der Schutzpatron aller mit Feuer befassten Berufe gilt. Kirche, Pfarreiengemeinschaft, Wanderwege und natürlich die Messe in Marktheidenfeld sind nach ihm benannt.

Auch Pfarrer Hermann Becker aus Marktheidenfeld erinnert zu Allerheiligen an die Menschen, die ein eher verdecktes Leben geführt haben, ähnlich des Alltagsleben des Jesu von Nazareth, über das man wenig wisse. »Charles de Foucauld fällt mir da ein«, sagt Becker, der zu dem französischen Forscher und Priester eine besondere Beziehung hat. 1858 in Straßburg geboren und 1916 in Algerien erschossen, erlebte der heute Heiliggesprochene einen radikalen Lebenswandel. Zunächst als Offizier, später als Mönch und Priester lebte und wirkte er in Algerien, Marokko, Nazareth, an den verlassensten Orten, um dem Ruf Jesu zu folgen. Nach seinem Tod wurden elf Ordensgemeinschaften und acht weitere Gemeinschaften und Säkularinstitute gegründet, die sich auf Charles de Foucauld berufen.

Wichtig zu betonen: »Wie beten in der katholischen Kirche nicht zu den Heiligen, sondern nur zu Gott. Mit den Heiligen kann man sprechen, man kann mit ihnen beten«, erklärt Becker. Ein Tipp noch vom Pfarrer: Es lohne sich auch, Allerheiligen mal zum Anlass zu nehmen der Geschichte des eigenen Namenspatrons nachzugehen. Oft gibt es sogar mehrere und ihre Geschichten können durchaus inspirieren.

Die evangelische Kirche lehnt die Heiligenverehrung bekanntlich als unbiblisch ab. Nach reformatorischem Verständnis soll sich jeder Mensch im Gebet direkt an Gott wenden. So weit die Theorie. »Aber wir leben im 21. Jahrhundert«, sagt Wibke Klomp, die Dekanin im Kirchenbezirk Wertheim. Sie spricht auch derzeit die »Abendgedanken« zu den Feiertagen im SWR 4 und hat sich dazu auch mit der Frage der Verbindung zu Allerheiligen auseinandergesetzt. »Natürlich ist das erst mal ein katholischer Feiertag, mit dem Protestanten nicht so viel anfangen können, sagt man«, so Klomp. Und doch solle man auch als Protestant Allerheiligen nicht vorschnell verwerfen. »Es geht hier um Vorbilder im Glauben, bei denen man Halt finden kann, wenn es einem nicht gut geht oder wenn man Hilfe braucht. Und das ist ein schöner Ansatz«, sagt die Dekanin.

Marienaltar in Dertingen

Und sie nennt ein beeindruckendes Beispiel: In der Dertinger Wehrkirche etwa stehe ein Marienaltar mit vielen Heiligenfiguren, darunter auch viele Frauen. Ein seltener Anblick in einer evangelischen Kirche, wurden solche Altäre doch nach der Reformation meist entfernt. »Und viele Menschen kommen hierhin, um hier gemeinsam zu beten. Das ist doch schön«, sagt Klomp, die hoffe, dass der Altar noch lange bleibe. »Die Zeit, dass wir uns gegenseitig aburteilen, ist vorbei. Es ist bereichernd für alle, gegenseitig die Schätze der anderen Kirche wertzuschätzen.«

Natürlich ist und bleibe Allerheiligen nicht evangelisch, so Klomp. Das Bedürfnis der Christen, ihre Anliegen mitzuteilen und um Fürsorge zu bitten, vereine dennoch alle, egal ob evangelisch oder katholisch. »Wie haben da zum Beispiel unsere Gebetswand in der Stiftskirche, die rege genutzt wird, ein Gebet ohne Heilige«, so die Dekanin.

Unverhoffte Hilfe

Und wenn doch ein Heiliger mal unverhofft zur Seite springt, freue sie sich immer: Vor einer ökumenischen Andacht habe sie mal ihren Geldbeutel verloren. Eine katholische Bekannte habe daraufhin gesagt: »Kein Problem, ich bete für dich mit dem Heiligen Antonius.« Kurz danach sei der Geldbeutel beim Öffnen der Tür aus ihrem Auto gefallen. »Da haben wir beide gelacht und gleichzeitig fand ich es sehr berührend.«