Großer Nährboden für Verschwörungsmythen
„Netzwerk gegen Rechts Main-Tauber“: Antisemitismusbeauftragter der Landesregierung sprach in Schweigern über „Digitale Verrohung“, Hass und Hetze, Gut-Böse-Denken und Reichsbürger
Globale und auch persönliche Verunsicherungen, sei es durch Corona, Kriege, Inflation und andere Krisen, bieten den perfekten Nährboden für Verschwörungsmythen. Schuldige werden gesucht.
Von Sascha Bickel
Boxberg/Schweigern. „Antisemitismus ist nicht irgendein Verschwörungsglauben, sondern er bedroht die Grundlagen jeder friedlichen, freiheitlichen und rechtsstaatlichen Ordnung“, sagt Dr. Michael Blume. Seit März 2018 ist er der Antisemitismusbeauftragte für Baden-Württemberg und bei seinem spannenden Vortrag in der Turnhalle Schweigern hatte er viel zu erzählen, über Verschwörungsfragen, das dualistische Gut-Böse-Denken, Zionisten, Illuminaten und Reichsbürger, Dämonen und Reptiloide, die zunehmende digitale Verrohung im Internet, aber auch über Wissen, Vernunft und Gefühle, über Medien und Recht sowie über die wehrhafte Gesellschaft und Demokratie.
Das „Netzwerk gegen Rechts Main-Tauber“ und der evangelische Kirchenbezirk Adelsheim-Boxberg hatten Dr. Blume (in Kooperation mit der Stadt Boxberg und dem Familiennetzwerk Boxberg-Ahorn) zum Vortrag eingeladen und freuten sich über rund 50 Interessierte, die am Ende der knapp zweistündigen Veranstaltung reichlich Applaus spendeten. Pfarrer Philipp Hocher stellte den Gast zu Beginn kurz vor.
Von weltweiten, aber auch vielen persönlichen Verunsicherungen berichtete Dr. Blume, die es schon immer gegeben habe, und die den Nährboden für Verschwörungsmythen bieten. Ob Corona-Pandemie, Klimawandel, der Krieg in der Ukraine, die starke Inflation oder andere Problemfelder – „Menschen suchen Schuldige für ihre eigenen Krisen und die Krise der Welt“, erklärte Blume und ging direkt darauf ein, wie sich Menschen, verstärkt durch die „sozialen“ Medien, in Filterblasen radikalisieren und dann „die da oben“, zum Beispiel Regierungen, Wirtschaftsbosse, aber genauso auch Migranten, Juden, Ärzte und Journalisten für alles Übel in der Welt verantwortlich machen.
Viele Abgründe
Menschen aus der Mitte der Gesellschaft würden plötzlich Antworten in antisemitischen Verschwörungsmythen suchen. Und das Internet sorge zwar für viele Chancen auf die Verbreitung von Wissen und Kommunikation, biete aber leider auch viele Abgründe mit Blick auf die schnellere Verbreitung von Lügen und Desinformation. Dr. Michael Blume kennt die Kampagnen aus dem Netz aus leidvoller eigener Erfahrung. Der Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung ist unter anderem Ansprechpartner für die Belange jüdischer Gruppen, Kommunen sowie Kirchen- und Moscheegemeinden. Für Blume ist der Kampf gegen den Antisemitismus „ein Gebot der Verantwortung für unsere Demokratie“. Wir alle müssten Sorge dafür tragen, „dass Minderheiten bei uns nicht angegriffen werden und kein Keil in unsere Gesellschaft getrieben wird“.
Der Experte beschäftigte sich an diesem Abend auch mit dem „Dualismus“, also dem Aufteilen in „Das ist gut und das ist böse“. Auf den ersten Blick sei es unglaublich attraktiv und mache das Leben leichter. „Man gehört zu den Guten, man zieht in die Schlacht und jetzt zeigt man es der Welt mal“, so Blume. Durch das Internet werde dies noch einmal verstärkt. Man finde hier relativ schnell „Gleichgesinnte“. Doch die Probleme würden eigentlich nie gelöst, sie würden höchstens überspielt, aber es käme zu neuen Verknüpfungen und verschiedene Dinge würde miteinander vermischt. Zum Beispiel Corona und die angebliche Bargeld-Abschaffung. Und dann werde den Verschwörungsanhängern plötzlich Gold zum Kauf angeboten. Blume warnt vor „Verschwörungsunternehmern“, die sich gerne auf Kosten ihrer Anhänger bereichern.
Schon immer habe es Menschen gegeben, betont Blume, die glaubten, dass die Welt von bösen Mächten beherrscht wird. Schaue man in die Geschichte hätten diese Mythen meist frauenfeindliche oder antisemitische Züge. In Krisenzeiten bekämen Verschwörungserzählungen leider immer Zulauf.
Dass der Verschwörungsglaube nicht nur andere, sondern letztlich die Anhänger und deren Familien selbst bedrohe, darauf ging Blume ebenfalls ein. Sie misstrauten den Ärzten und seien nicht mehr bereit, sich impfen zu lassen, oder sie entwickelten wahnhafte Züge gegenüber Regierung und Behörden. In Brandenburg griff ein Vater zur Waffe und tötete sich und seine ganze Familie, inklusive den drei Töchtern. „Denn Verschwörungsglauben bedeutet, dass man sich selbst nicht als Teil der Lösung sieht. Stattdessen wird die Schuld an allem, was schiefläuft, bei Verschwörern gesucht“, so Blume, der ebenfalls meint, dass es meist Zeit brauche, bis man verfestigt verschwörungsgläubig ist. Gerade deswegen mache der Austausch mit jungen Menschen viel Sinn.
Gute Fragen stellen
„Verschwörungsgläubige glauben an die Weltherrschaft des Bösen, und sie deuten sich ihre ganze Welt damit. Sie glauben, sie sind die Erwachten. Diejenigen, die den Durchblick haben, während alle anderen getäuscht würden.“ Mit rationaler Argumentation und mit wissenschaftlichen Studien komme man laut Blume bei diesen häufig nicht weiter. Aber vielleicht mit guten Fragen! „Ja, der Professor, den Du da zitierst, welche Qualifikation hat der nochmal?“ Klar sei aber auch, so Blume: „Wir werden nicht alle aus Ihrer Blase holen können.“
Extrem wichtig sei es, den anderen im Internet nicht die Deutungshoheit zu überlassen. Viele ziehen sich zurück, meiden die Öffentlichkeit, wenn sie im Netz angegriffen werden. Da rät Blume: „Ziehen Sie sich nicht zurück! Organisieren Sie sich Hilfe. Sprechen Sie mit Freunden, Lehrern, Stadträten, Journalisten, der Polizei.“
Miteinander über Wissen und Wahrheit, über Vernunft und Gefühle, über Medien und Recht zu reden, hält Blume für unerlässlich. Er plädiert zudem für Bildung und Integration, aber auch für einen Rechtsstaat, der klare Grenzen zieht, (rechts-)extreme Bewegungen beobachtet und strafrechtlich verfolgt. Kämen dazu Waffen ins Spiel, brauche es „einen wehrhaften Staat“, der gegen den illegalen Besitz vorgehe – so wie es auch beim großen Polizeieinsatz im April in Bobstadt geschah. Ein vermeintlicher Reichsbürger schoss damals auf die Polizei und verletzte einen Beamten schwer. Der mutmaßliche Täter sitzt in Untersuchungshaft.
Dass die Hasskriminalität im Netz auch in Baden-Württemberg steigt, führte Dr. Blume noch aus und fügte an: „Menschen gehen an diesem Hass kaputt.“ Auch hier sei der Staat gefragt, kriminelles Handeln im Netz konsequent zu verfolgen.
Ein Plädoyer für den Lokaljournalismus hielt Blume auch noch, denn hier werde noch der politische und gesellschaftliche Raum im direkten Lebensumfeld aus der Wahrnehmung der Menschen heraus dargestellt. Stattdessen nehme man über das Internet Krisen, brennende Wälder, Kriege und Katastrophen wahr und fühle sich oft nur noch machtlos. Heute wachse eine ganze Generation mit diesen Erfahrungen auf. Deswegen brauche es einen Dialog mit Wissenschaft, Verwaltung und Medien, der über die Zukunft der Medien berät.
Nach der Diskussion mit dem Publikum bedankten sich Thomas Tuschhoff vom „Netzwerk gegen Rechts“ und ebenso Dekan Rüdiger Krauth für die interessanten Ausführungen von Dr. Blume und überreichten kleine Geschenke.
Übrigens: Seit März 2020 klärt Dr. Michael Blume in seinem regelmäßigen Podcast „Verschwörungsfragen“ über verschiedene Aspekte der Themen Antisemitismus und Verschwörungsmythen auf.
Video über den Vortrag von Dr. Blume: unter fnweb.de und im FN-Youtube-Kanal.