Ein dramatischer Erosionsprozess
Katholische Kirche verliert so viele Mitglieder wie noch nie / Nur noch eine Minderheit der Deutschen ist in einer christlichen Kirche
Bonn/Freiburg. Dass immer mehr Katholiken aus der krisengeschüttelten Kirche austreten, überrascht nicht einmal mehr die deutschen Bischöfe. Die nun veröffentlichten Zahlen haben aber ein nie gekanntes Ausmaß – und der Tiefpunkt ist womöglich noch nicht erreicht.
Im vergangenen Jahr sind bundesweit so viele Menschen ausgetreten wie noch nie: 359338. In Baden-Württemberg sind aus den zwei evangelischen Landeskirchen und den beiden katholischen Bistümern erstmals in einem Jahr mehr als 100000 Christen ausgetreten. Der evangelischen Kirche kehrten 42200 Protestanten den Rücken; die katholische Kirche verließen 58000 Gläubige. Damit sank die Zahl der Protestanten im Land auf 2,89 Millionen und die der Katholiken auf 3,43 Millionen. Christen stellen somit rund 57 Prozent der Bevölkerung in Baden-Württemberg. Bundesweit fiel ihr Anteil erstmals auf weniger als 50 Prozent: Von 83,2 Millionen Bundesbürgern sind rund 41,4 Millionen katholisch oder evangelisch, das entspricht knapp 49,8 Prozent.
Georg Bätzing, Vorsitzender der Bischofskonferenz, zeigt sich „zutiefst erschüttert über die extrem hohe Zahl von Kirchenaustritten“. Sie sei Zeugnis einer „tiefgreifenden Krise, in der wir uns als katholische Kirche in Deutschland befinden“. Die innerkirchlichen Skandale, „die wir in erheblichem Maße selbst zu verantworten haben“, zeigten sich in den Austritten, es sei „nichts schönzureden“.
Der Freiburger Erzbischof Stephan Burger erklärte: Gerade in Zeiten von Krieg, Pandemie und globalen Krisen sei das Bedürfnis der Menschen nach Hoffnung, Orientierung und Halt so groß wie lange nicht mehr. „Versuchen wir als Kirche bei allen Problemen, die uns derzeit beschäftigen, trotzdem den Menschen ein demütiger, erfahrener und liebevoller Begleiter auf der Suche nach Gott und dem Sinn des Lebens zu sein.“
Der nicht enden wollende Skandal um sexuellen Missbrauch und dessen Vertuschung lässt die katholische Kirche auch nach mehr als einem Jahrzehnt nicht los. Immer neue Enthüllungen und Erkenntnisse erschüttern die Gläubigen, und der Glaube an Reformen schwindet bei vielen. „Der dramatische Erosionsprozess in der katholischen Kirche schreitet ungehemmt voran“, so der Münsteraner Theologe und Kirchenrechtler Thomas Schüller im Kölner Stadt-Anzeiger. Er spricht von einem „Woelki-Tsunami“ mit Bezug auf die langwierige Debatte um den umstrittenen Kölner Erzbischof. Das „indiskutable Leitungshandeln des Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki im Umgang mit sexualisierter Gewalt und den Betroffenen in der Kirche sowie sein verschwenderischer und rechtlich fragwürdiger Umgang mit Kirchenvermögen für zweifelhafte Zwecke“ habe sich „unmittelbar“ auf alle Diözesen ausgewirkt.
Die katholische Kirche zählte Ende 2021 deutschlandweit nur noch 21,65 Millionen Mitglieder – das macht 26 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Nur noch 4,3 Prozent der Katholiken besuchten 2021 regelmäßig einen Gottesdienst. Im Jahr davor waren es noch 5,9 Prozent. Inzwischen träten auch viele aus der Kirche aus, die sich ihr eigentlich verbunden fühlten, sagt Bätzing. „Wir müssen uns neu erklären, erläutern, was wir tun und warum wir es machen.“ Aus Sicht der Reformbewegung „Wir sind Kirche“ zeigen die Zahlen, „wie schlecht es um das Vertrauen des Kirchenvolks in die Kirchenleitung bestellt ist“.
Eine kurzfristige Trendumkehr ist mehr als unwahrscheinlich. Die Auswirkungen des Münchner Missbrauchsgutachtens, das im Januar veröffentlich wurde, werden sich erst in der Kirchenstatistik 2022 niederschlagen, die im kommenden Jahr bekannt gegeben wird.
Die evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hatte ihre Mitgliederzahlen im März bekannt gegeben: Ende 2021 zählte sie noch 19,73 Millionen Mitglieder – das ist ein Rückgang von 2,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Schuld daran sind vor allem 280 000 Kirchenaustritte. Eine repräsentative Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD hat kürzlich die Gründe für die Austritte näher untersucht. Überraschendes Ergebnis: Die Kirchensteuer spielt kaum eine Rolle. „Der eigentliche Grund ist die fehlende Bindung an Kirche und Glauben“, sagt Studienleiterin Petra-Angela Ahrens. „Es geht bei den meisten nicht um das eingesparte Geld, es geht um die fehlende Plausibilität der Kirchenmitgliedschaft.“
Die große Mehrheit der Ausgetretenen, ob Katholiken oder Protestanten, nennt der Studie zufolge keinen konkreten Anlass für ihren Schritt. Sie haben sich im Laufe der Jahre von der Kirche entfremdet und ziehen irgendwann den Schlussstrich. Ein auffälliger Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten sei, dass Katholiken häufiger austräten, weil sie sich wirklich über den Zustand ihrer Kirche aufregten, etwa über die Diskriminierung von Frauen und Homosexuellen. Britta Schultejans (dpa)/KNA/sis