stuttgarter-zeitung.de, 04.08.2023

 

Viel Druck im Namen Gottes

In Offenburg sind diese Woche zum wiederholten Mal knapp 1400 Jugendliche beim christlichen Teenstreet-Kongress zusammengekommen. Zwei einstige Teilnehmerinnen haben infolge der Veranstaltung viel gelitten. Lisa Kutteruf

Die Bühne ist hell erleuchtet, der Saal dunkel, das Publikum steht. Als die Band den Refrain anstimmt, recken sich Hände in die Höhe. Ein Mädchen, Hand auf dem Herzen, bebender Körper, hat die Augen geschlossen und singt mit. Eine anderes, den Arm um die Freundin neben sich gelegt, wischt sich Tränen aus dem Gesicht. „Take courage, lift up your voice“, singen sie. „Cause Jesus is alive.“

Die jungen Frauen nehmen an einem Gottesdienst von Teenstreet teil, einem internationalen christlichen Kongress für Jugendliche
, der diese Woche zum wiederholten Mal auf dem Offenburger Messegelände stattgefunden hat. Die meisten Teenager kommen aus evangelikalen Freikirchen in Deutschland und mehr als 20 weiteren Ländern auf der ganzen Welt. Sie singen, sie spielen, sie beten in der großen Messehalle und in Kleingruppen – im Zentrum stehen die Bibelarbeit und der Austausch zu Lebens- und Glaubensfragen. Der Veranstalter Operation Mobilisation (OM), eine Missionsgesellschaft mit evangelikalem Hintergrund, will Jugendliche nach eigenen Angaben „in ihrem Leben mit Jesus“ ermutigen und sie „dabei unterstützen, gute Entscheidungen zu treffen“.

Das kommt offenbar gut an. Das Festival ist in den vergangenen 30 Jahren von 53 auf zeitweise bis zu 4500 Teilnehmer angewachsen, erzählt Pressesprecherin Corinna Scharrenberg. In diesem Jahr sind es knapp 1400 Jugendliche. Bei Teenstreet herrscht ein Gemeinschaftsgefühl, das viele Teilnehmende vor Ort loben. Scharrenberg spricht von einer Generation, die Gemeinschaft braucht – ganz besonders nach der Pandemie. „Viele Teenager kommen mit viel emotionalem Ballast hier her“, sagt Teenstreet-Leiter Matzi Vögelin. „Hier realisieren sie dann erst, dass sie das nicht alleine tragen müssen, dass es jemanden gibt, der ihnen hilft“ – und meint damit Gott. Viele der Jugendlichen kommen immer wieder auf den Kongress und steigen als Erwachsene ins Mitarbeiterteam ein.

Auch Sarah (Name geändert) ging diesen Weg. Sie erinnert sich noch gut daran, wie beeindruckt sie als Jugendliche von den Gottesdiensten mit Showcharakter war, von der Gemeinschaft. „Die Musik war mitreißend und ich fand es super, dass Leute aus ganz Europa da waren“, erzählt sie heute. „Ich hatte das Gefühl, Teil von etwas Größerem, Bedeutsamem zu sein.“ Teenstreet gab ihr Halt, manche Leitfiguren wurden ihr zu Vorbildern. Als Sarah älter war, ließ sie sich selbst zur Gruppenleiterin schulen. Doch seitdem hat sich viel verändert. Inzwischen sieht die Mittdreißigerin den Kongress kritisch.

Christliche Inhalte, charismatische Ansprache, emotionale Momente: Viele Teenstreet-Mitarbeiter wollten nur Gutes für die Jugendlichen, glaubt Sarah. Doch durch die Predigten werde ein immenser Druck aufgebaut: Druck, eine gute Christin zu sein, Gott das eigene Leben zu übergeben, von einem bestimmten Weg nicht abkommen zu dürfen. Druck, sich moralisch korrekt zu verhalten. „Sexualität wird rigide behandelt“, sagt Sarah, „als etwas für die Ehe.“ Auch dass Masturbation und Homosexualität
nicht gut seien, werde vermittelt. Durch diese Indoktrination finde meist unbewusst, eine Absonderung von der nichtchristlichen Welt statt. Sie persönlich, erzählt Sarah, habe sogar Angst bekommen vor der „Welt draußen“.

Julia (Name geändert), ebenfalls in ihren Dreißigern und ehemalige Teenstreet-Teilnehmerin, kennt diese Angst vor der „Welt draußen“ nur zu gut. Auf der einen Seite die gläubigen Christen, auf der anderen die Ungläubigen, denen die Hölle droht – so beschreibt sie das Drohszenario, das sie früher im Kopf hatte. Wie bei Sarah spielte sich Julias Leben in einem evangelikalen Kosmos ab, sie hatte fast nur christliche Freunde. „Ich hatte Angst vor den Kommilitonen an der Uni, als ich zum Studieren in eine neue Stadt gezogen bin“, erzählt Julia. Den „bombastischen Gottesdienst“, die Emotionalisierung und charismatische Ansprache bei Teenstreet, bezeichnet sie heute als „extrem manipulativ“ und als Gehirnwäsche. „Alle möglichen Dinge werden als Sünde, als ‚unrein’ deklariert“, sagt sie. Wie Sarah spricht sie von großem Druck. Sie erinnert sich an ihren eigenen Anspruch, von vollem Herzen eine gute Christin sein zu wollen – und von dem schlechtem Gewissen, wenn sie das Gefühl hatte, dem nicht genügen zu können.

Was Sarah und Julia erzählen, sei in evangelikalen Gemeinschaften häufig zu beobachten, sagt Sandra Kemp, Diakonin der Evangelischen Landeskirche Baden im Bereich Weltanschauungsfragen. In diesen Gruppen herrsche häufig „ein sehr intensives Frömmigkeitsleben, das einen großen bis sehr großen Zeitinvest erfordert. Diese starke Einbindung kann, in Verbindung mit dem Bestreben, alle Erwartungen und Maßstäbe der Gemeinschaft zu erfüllen, zu großem Druck führen“, teilt Kemp mit.

Viele Jahre wollte Sarah die Erwartungen erfüllen und Jesus „mit Haut und Haaren dienen“, wie sie sagt. Doch dann verliebte sie sich in eine Frau – und eine schwere Zeit brach an. Sarah begann mit der sogenannten Konversionstherapie, einem Prozess also, der ihre sexuelle Orientierung verändern sollte. „Ich habe viele Jahre versucht, durch Seelsorge herauszufinden, wie es zu meiner Homosexualität
kommen konnte. Was ist falsch gelaufen? Und wie kann ich zu meiner Weiblichkeit zurückkehren?“, erzählt sie.

In der Seelsorge sei ihre sexuelle Ausrichtung mit einer Sucht verglichen worden. Über diese Zeit zu sprechen, fällt ihr bis heute sichtlich schwer. Irgendwann war Sarah psychisch am Tiefpunkt angelangt. „Ich fragte mich: Hätte Gott mich lieber tot als mit einer Frau zusammenlebend?“ Doch irgendetwas in ihr wand sich, als würde ihre Seele der ihr zugedachten Sorge einen Riegel vorschieben. Sarah begann zu zweifeln. „Warum wurden bei Teenstreet solche Grundsteine gelegt? Wissen die, was dieser Druck für Menschen bedeuten kann?“, fragt sie heute.

Teenstreet-Leiter Vögelin und Sprecherin Scharrenberg zeigen sich betroffen angesichts Sarahs Leidensweg. Vögelin gibt sich beim Thema Sexualität offen. Menschen jeglicher sexuellen Ausrichtung seien auf dem Kongress willkommen. „Was wir vermitteln wollen, ist, in Liebe den Menschen zu begegnen“, sagt Vögelin. „Wir glauben, dass Sex in die Ehe gehört“, sagt Sprecherin Scharrenberg aber auch.

Darüber hinaus bleiben Leiter und Pressebeauftragte vage. Vorgaben zum Thema vermittle Teenstreet in den Gottesdiensten nicht. Was in den Kleingruppen durch die verschiedenen Gruppenleiter vermittelt werde, könne man jedoch nicht im Detail kontrollieren. Doch was würde die Kongressleitung einem Teamleiter raten, sollte sich ein Teenager outen und das Gespräch über seine Sexualität suchen? „Wir hören erst einmal zu“, antwortet Vögelin. „Oft ist das das Gespräch total wichtig“, bekräftigt Scharrenberg, „auch, um zum Beispiel herauszufinden: Ist diese Person jetzt wirklich homosexuell oder ist es vielleicht auch etwas anderes, das sie umtreibt?“ In jedem Fall sei ein Seelsorgeteam vor Ort, das helfen könne, weitere Schritte zu beraten. Auf die Nachfrage hin, was unter diesen Schritten zu verstehen ist, windet sich das Leitungsteam. Das sei von Fall zu Fall verschieden. Gott liebt den Sünder und hasst die Sünde?

Sarah und Julia haben ihren Gemeinden und Teenstreet nach langem Leidensweg den Rücken gekehrt. Sie haben andere liebe Menschen kennengelernt – in der Welt draußen.