Von Reisebegleitung bis zu sozialer Arbeit
In Kriegs- und Krisenzeiten ist das Angebot der Bahnhofmissionen stärker gefragt – auch in Karlsruhe Marco KreftingKarlsruhe. Einen Kaffee, ein Mittagessen, eine Gelegenheit zum Aufwärmen oder auch eine Möglichkeit, das Herz auszuschütten: In Zeiten von Krieg und Krisen sind die Bahnhofsmissionen einmal mehr gefragt. Der Bedarf ist so groß, dass Laura Mössinger eigentlich mehr Ehrenamtliche bräuchte. Sie ist Co-Leiterin der Bahnhofsmission am Karlsruher Hauptbahnhof, wo rund 30 Männer und Frauen mitarbeiten.
365 Tage im Jahr – auch sonntags und an Feiertagen – haben sie vormittags geöffnet. Nachmittags an drei Tagen in der Woche. „Aber ohne mehr Ehrenamtliche können wir nicht erweitern“, sagt sie.
Ob Obdachlose, gestrandete Bahnreisende oder Jugendliche, die aus einer Einrichtung abgehauen sind – das Publikum ist sehr durchmischt. „Es gibt viele Gäste, die regelmäßig kommen“, erzählt Mössinger. Andere rufen manchmal auch nur an. Mal fragt eine Frau, wo ihr schwer psychisch kranker Sohn Hilfe bekommen könne. Mal will ein Mann Hilfe bei der Steuererklärung. Nicht alle Wünsche können erfüllt werden.
„Wir sehen uns als Erstanlaufstelle, die zuhört und Infos raussucht“, sagt Mössinger. Wer zum Beispiel eine Bewerbung schreiben will, könne einen Laptop nutzen. Bei anderen Themen vermitteln die Ehrenamtlichen etwa an Schuldner-, Migrations-, Arbeitslosen- oder Eheberatung weiter. „Wir können kleine Hilfen leisten“, sagt Mössinger.
Bahnhofsmissionen sind in kirchlicher Trägerschaft. Im Südwesten gibt es sie unter anderem in Stuttgart, Mannheim, Tübingen, Heilbronn, Biberach und Friedrichshafen am Bodensee. Die erste wurde 1894 in Berlin gegründet, um reisenden Frauen und Mädchen Schutz vor Ausbeutung und Missbrauch zu bieten. Heute geht es um viel mehr.
Mit mehr als 167.000 unterstützten Menschen im vergangenen Jahr verzeichneten die badischen Bahnhofsmissionen eine Steigerung um über 70 Prozent und einen Rekordwert, wie Felix Hechtel vom Diakonischen Werk der Evangelischen Landeskirche in Baden berichtet. Das habe zu einem Großteil an Geflohenen aus der Ukraine gelegen. Da sei es etwa darum gegangen, Übernachtungsplätze zu vermitteln. Aber auch existenzielle Krisen infolge der Inflation erhöhten die Nachfrage. „Eigentlich sind das nicht primär Kriseninterventionsstellen“, sagt der Leiter der Abteilung Familien, Existenzsicherung und soziale Teilhabe. „Es hat sich aber so entwickelt.“
Auch Nicole Maier spricht davon, dass „der Spagat zwischen Reisebegleitung und sozialer Arbeit“ größer werde. Sie ist Regionalleiterin beim Frauenverband In Via in der katholischen Diözese Rottenburg-Stuttgart, der in diesem Bereich für Bahnhofsmissionen zuständig ist. 78.500 Hilfekontakte zählten diese im vergangenen Jahr, wie Maier sagt. „Das Inflationsthema und die Energiekrise haben sich sehr stark bemerkbar gemacht.“ Für Leute, die nicht weiterwissen, würden die Einrichtungen zu einem Anker.
Doch auch die Bahnhofsmissionen selbst stehen vor Problemen: Nicht nur an freiwilligen Helferinnen und Helfern mangelt es, auch an Geld – nicht zuletzt infolge gestiegener Energie- und Lebensmittelpreise. Je nach Größe koste der Betrieb einer Bahnhofsmission 100.000 bis 150.000 Euro pro Jahr, rechnet Hechtel vor. Die Ehrenamtlichen bekämen eine Aufwandspauschale, die sich von Ort zu Ort unterscheide. „Damit sind aber nur die Fahrtkosten abgedeckt und ein Wurstbrötchen.“
Finanziert werde das vor allem durch Einnahmen aus der Kirchensteuer und Spenden. In manchen Fällen steuern die Städte Geld bei, in Karlsruhe beispielsweise laut der Kommune 25.000 Euro im Jahr. Solche Festbeträge seien aber oft vor Jahren ausgehandelt und seither nicht mehr angepasst worden, sagt Hechtel. Hier sei dringend mehr Hilfe nötig. Denn schon jetzt sehe man die Folgen: eingeschränkte Öffnungszeiten oder die Schließung wie in Kehl im Ortenaukreis 2021.
Auch ist das Angebot nicht überall identisch, sondern wird den Gegebenheiten angepasst, wie Maier sagt. Während Gäste am Ulmer Hauptbahnhof in der Bahnhofsmission verpflegt würden, gingen die Ehrenamtlichen in Biberach und Aulendorf (Landkreis Ravensburg) bei Bedarf gemeinsam zum Bäcker. „Da geht es eher um Notfälle.“
Wer bei der Bahnhofsmission mitwirken will, bekommt laut Hechtel eine Grundschulung. Auch Aufbaukurse seien möglich. In der Regel engagierten sich ältere Menschen, in Heidelberg und Freiburg seien es wegen vieler sozialer Studiengänge auffallend mehr Studierende.
Manchmal hören sie Geschichten über einschneidende Erlebnisse, die lange nachhallen, wie Laura Mössinger von der Bahnhofsmission Karlsruhe sagt. Dann sprechen die Ehrenamtlichen untereinander oder suchen das Gespräch mit den Leiterinnen. Seit ein paar Monaten werde regelmäßig auch eine Gruppen-Supervision angeboten. „Das wird in Anspruch genommen.“ Zudem gibt es ein Tagebuch, in das die Ehrenamtlichen aufschreiben können, was sie bewegt hat. Für die nächste Schicht. „Aber auch, um seine Eindrücke zu sortieren.“