Mannheimer Morgen Stadtausgabe, 02.05.2023

 

„Zu Verbrechen bekennen“

Der Freiburger Erzbischof Stephan Burger über die Erkenntnisse aus der Missbrauchsstudie und die Konsequenzen für das Bistum

Auch im Erzbistum Freiburg wurde sexueller Missbrauch von Priestern aktiv vertuscht. Eine Missbrauchsstudie gibt Oskar Saier und Robert Zollitsch eine schwere Mitschuld. Zollitschs Nachfolger, Erzbischof Stephan Burger bezieht im Interview mit dieser Redaktion Stellung.

Herr Erzbischof, wann haben Sie zum letzten Mal mit Ihrem Glauben an die katholische Kirche gehadert?

Stephan Burger: Mit dem Glauben hadere ich nicht.

Der 600 Seiten dicke Abschlussbericht der Arbeitsgruppe Aktenanalyse kommt zu dem Ergebnis, dass die Kirche ein Schutzraum für Missbrauchstäter war. Handelt es sich um ein Systemversagen oder um das Versagen Einzelner?

Burger: Ich denke, die Kirche als System hat Missbrauch ermöglicht. Es kann und darf aber nicht sein, dass Kirche ein Schutzraum für Täter ist.

Spätestens seit der MHG-Studie 2018 ist bekannt, dass Missbrauch von katholischen Priestern keineswegs die Ausnahme war. Dennoch: Haben die Erkenntnisse über Ihr eigenes Bistum Sie überrascht?

Burger: Es hat mich insofern überrascht, dass die Zahlen so hoch sind. Das hätte ich niemals vermutet. Es ist umso erschreckender, weil Kirche von ihrer Botschaft her Raum für Geborgenheit sein will. Dass es Priester gegeben hat und gibt, die diesen Raum missbrauchen, das Leben von Menschen ruinieren und durch ihre Handlungsweise das Evangelium pervertieren, geht nicht zusammen mit dem, was wir verkündigen und wofür Kirche steht.

Die Kritik der Verfasser des Missbrauchsstudie macht sich vor allem an einer Person fest: an Ihrem Vorgänger Robert Zollitsch. Er hat vertuscht und schuldige Pfarrer „versteckelt“, wo immer es ging – dies ohne kirchen- oder strafrechtliche Verfolgung. Geraten bei diesem Fokus nicht die eigentlichen Täter in den Hintergrund?

Burger: Das kann man aufgrund des Berichts vielleicht so sehen. Aber klar ist, dass es für die Täter keine Schon- und Schutzzeit gibt. Viele Täter leben mittlerweile nicht mehr. Aber als Erzbischof bin ich gehalten, die Priester, die sich schuldig gemacht haben, zur Rechenschaft zu ziehen.

Wie viele Opfer und wie viele Täter sind dokumentiert?

Burger: In der MHG-Studie hatten wir 442 Betroffene und 190 Beschuldigte. Wir wissen nun durch die Aufarbeitung, dass sich diese Zahl noch einmal erhöht hat. Die unabhängige Aufarbeitungskommission unserer Erzdiözese geht jetzt von zirka 250 beschuldigten Priestern und 540 Betroffenen aus. Das ist eine Katastrophe.

Inwiefern können Sie den Zahlen trauen, wenn doch vertuscht und Missbrauch erst gar nicht aktenkundig gemacht wurde? Wie groß schätzen Sie die Dunkelziffer?

Burger: Dazu kann ich keine Angaben machen. Entscheidend ist, dass gerade durch die Aufarbeitung weitere Fälle bekanntwerden. Die Arbeit ist nicht zu Ende. Die Aufarbeitung muss weitergehen.

Sie waren von 2007 bis zu Ihrer Ernennung als Erzbischof 2014 Offizial des Bistums und damit Leiter des Kirchengerichts im Bistum Wie viele Missbrauchsfälle im Bistum haben Sie in Ihrer Amtszeit als Offizial behandelt?

Burger: Darüber gibt der Abschlussbericht ja Auskunft. Ich war in diese Fälle nicht einbezogen. Erst als ich im Herbst 2013 ins Domkapitel kam, wurde ich näher mit dieser Problematik konfrontiert. Ab da haben wir die Fälle bearbeitet und auch nach Rom gemeldet. Da ging die Aufarbeitung los.

Sie haben tatsächlich nicht mitbekommen, dass Ihr Erzbischof übergriffige Priester „versteckelt“ hat?

Burger: Ich war in Personalfragen nicht einbezogen. Klar war - auch durch die Medienberichterstattung, dass es Missbrauchsfälle gibt. Aber ich kann als Offizial erst dann handeln, wenn ich vom Bischof den Auftrag erhalte. Eigenmächtig kann ein Offizial in der Strafverfolgung nicht tätig werden. Ich konnte erst ab Herbst 2013 insistieren und die Dinge auf den Weg bringen.

Ihr Mainzer Amtsbruder, Bischof Kohlgraf hat sämtliche Akten über bekannt gewordenen Missbrauch seit 1945 der Staatsanwaltschaft übergeben. Werden Sie das auch tun?

Burger: Seit wir die Ergebnisse aus der MHG-Studie hatten, war klar: Das muss alles an die Staatsanwaltschaft. Die Akten wurden weitergegeben – ohne Wenn und Aber.

Nun gibt es möglicherweise Tatverdächtige, die sich noch im aktiven Kirchendienst befinden. Wie werden Sie diese suchen?

Burger: Wir sind darauf angewiesen, dass sich die Betroffenen melden. Erst dann werden die Priester feststellen können. Sofern sie noch leben, wird ihnen nach kirchlichem Recht der Prozess gemacht. Oftmals sind Taten nach staatlichem Recht schon verjährt. Wir haben innerhalb des Kirchenrechts die Möglichkeit, Verjährungen aufzuheben. Und wenn das von Rom gestattet ist, werden auch die Prozesse geführt. Das haben wir auch bei Beschuldigten schon getan, die noch leben.

Aber es bleibt nicht nur bei der kirchlichen Rechtssprechung?

Burger: Wie gesagt, sämtliche Akten sind bereits bei der Staatsanwaltschaft gewesen. Die Problematik ist: Wenn die Taten verjährt sind, wird sich die Staatsanwaltschaft nicht mehr drum kümmern. Aber dass die Staatsanwaltschaft die Fälle zu prüfen hat, steht für mich außer Frage. Es ist nicht so, dass die Kirche nur ihr eigenes Recht bearbeitet und den Staat außen vorlässt. Für mich ist es wichtig, dass der Staat die Fälle von seiner Seite aus angeht und wir kirchenrechtlich unsere Prozesse führen.

Sie werden möglicherweise auch künftig Missbrauch nicht verhindern können. Aber wie wollen Sie verhindern, dass Missbrauch unentdeckt und unbestraft bleibt? Welche Strukturen müssen im Erzbistum geändert werden?

Burger: Das beginnt damit, dass sich Betroffene nicht einfach nur beim Bischof melden. Über unsere Kommunikations- und Informationswege machen wir Betroffene darauf aufmerksam, sich bei externen Beauftragten zu melden, die sich der Fälle annehmen. Alle Fälle werden protokolliert und dokumentiert. Missbrauch ist nicht mehr nur eine Angelegenheit von einzelnen. Dafür sensibilisierte und beauftragte Personen sind einbezogen, damit Vertuschung nicht mehr möglich ist.

Aufarbeitung wird also auf eine breite Basis gestellt, dass viele Menschen draufschauen?

Burger: Es ist auch für mich wichtig, dass ich keine einsamen Entscheidungen treffe, sondern die Perspektive von anderen miteinbeziehe. Das gilt übrigens nicht nur beim Missbrauchsgeschehen. Ich denke, die Zeit der einsamen Entscheidungen eines Bischofs ist wirklich vorbei.

Wie beugen Sie vor, dass Missbrauch erst gar nicht geschieht?

Burger: Wir müssen präventiv unterwegs sein, um Missbrauch zu verhindern. Wir sensibilisieren unsere Gemeinden, unsere Mitarbeitenden in der Pastoral. Es muss klar sein, dass dieses Phänomen nicht verdrängt und weggeschoben wird, und dass Dinge nicht mehr so geschehen können wie früher gemäß dem Motto: Das ist was – und jeder duckt sich weg.

Werden Sie Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf das Erkennen von Missbrauch speziell schulen?

Burger: Das geschieht schon. Das läuft ja nicht erst jetzt an. Allein im vergangenen Jahr wurden mehr als 2000 Beschäftigte in Präventionsschulungen informiert, sensibilisiert und deren Handlungsfähigkeit im Umgang mit Verdachtsfällen gestärkt. Ich selber habe mich gerade vor Kurzem schulen lassen. Es ist auch für mich wichtig, sensibilisiert zu sein.

Wie begegnen Sie Betroffenen? Amtskollegen weigern sich oder tun sich schwer, persönlich mit Opfern zu sprechen.

Burger: Ich führe selbst Gespräche mit Betroffenen. Jede Person, die das möchte, kann über die Missbrauchsbeauftragten einen Termin mit mir bekommen. Ich konnte auf diese Weise mindestens schon 40 bis 50 Personen hören und erleben, was sexueller Missbrauch mit den Menschen macht, was er für Schäden anrichtet, wie er Leben zerstört. Diese Gespräche lassen mich nicht kalt. Deswegen ist es mir ein Anliegen, an dieser Arbeit dranzubleiben.

War es für Betroffene schwer, sich Ihnen zu öffnen?

Burger: Die Betroffenen sind sehr unterschiedlich unterwegs. Manchen ist es wichtig, mir gegenüber Dampf abzulassen, allen Frust loszuwerden, den sie ein Leben lang mit sich herumtragen. Andere besprechen ihr Schicksal sehr sachlich und reflektiert mit mir. Aber ich merke, wie wichtig es Betroffenen ist, mir sagen zu können, was sie bewegt und beschäftigt, was sie der Kirche, meinem Amtsvorgänger und den Priestern vorwerfen. Aber ich bekomme auch Rückmeldungen, wie die Kirche Betroffenen geholfen hat, ins Leben zurückzufinden.

Welche Forderungen stellen Betroffene an die Kirche?

Burger: Es steht mir nicht zu, hier stellvertretend für Betroffene zu sprechen. Aber ich nehme wahr: Das Hauptanliegen ist meist, dass die Kirche sich ihrer Verantwortung stellt und dass Missbrauch in der Kirche nicht mehr geschehen kann. Darüber hinaus geht’s auch immer wieder um finanzielle Forderungen.

Wie gehen Sie mit dem Andenken von Robert Zollitsch und Oskar Saier um? Hängen deren Bilder im Bischöflichen Ordinariat noch?

Burger: Die sind schon abgehängt. Aber nicht nur die Bilder der beiden. Das war für mich eine grundlegende Frage: Wie gehen wir heute mit Gemälden oder Porträts um? Weil ich gemerkt haben, wie Menschen sich schwertun, an dieser sogenannten Ahnengalerie vorbeizulaufen, war für mich klar: Die Bilder müssen da nicht hängen. Sie sollen auch nicht provozieren.

Und wie sollen’s die einzelnen Gemeinden halten?

Burger: Die können vor Ort selbst entscheiden, wie sie mit den Porträts umgehen. Da gibt’s von mir keine Direktive.

Was gibt Ihnen die Hoffnung, dass die katholische Kirche die Umkehr schafft?

Burger: Dass wir diese Vergangenheit nicht mehr verschweigen. Wir müssen uns zu den Verbrechen bekennen, die geschehen sind. Wir haben danach zu schauen, was die Taten begünstigt hat. Wir müssen uns umfassend sensibilisieren, dass nirgendwo weiße Flecken entstehen, wo dann doch wieder Missbrauch möglich wird. Das ist eine Arbeit innerhalb der Kirche, aber auch der Gesellschaft.

Noch nicht alle Bistümer haben eigene Missbrauchsstudien in Auftrag gegeben. Sie sind seit September 2022 stellvertretender Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz, somit die Speerspitze bei der Aufklärung. Inwiefern können Sie auf eine Transparenz in allen deutschen Bistümern hinwirken?

Burger: Dass die Aufklärung des Missbrauchs in allen Bistümern geschehen muss, steht außer Frage. Dazu gibt es auch eine gemeinsame Erklärung zwischen der dafür zuständigen Stelle der Bundesregierung in Berlin und der Deutschen Bischofskonferenz. Wir arbeiten darüber hinaus an Mechanismen, wie wir uns als Bischöfe kontrollieren und kontrollieren lassen. Wir müssen ein Auge aufeinander haben. Es kann nicht sein, dass sich die eine oder andere Diözese vor dieser Aufgabe drückt.