BADISCHE NEUESTE NACHRICHTEN Bruchsaler Rundschau, 22.04.2023

 

Geistlicher Beistand für Häftlinge

Werner Breitenstein

In seinem Ruhestand vertritt Andreas Wellmer immer wieder Pfarrer

Stutensee. Andreas Wellmer ist eigentlich evangelischer Pfarrer im Ruhestand. So richtig zur Ruhe kommt er allerdings nicht angesichts vieler Vertretungsdienste bei Pfarrermangel oder in Krankheitsfällen. Nach dem Ende seiner letzten Anstellung im Jahr 2014 zog es den Norddeutschen aus familiären Gründen nach Stutensee-Friedrichstal. Seit dieser Zeit übernimmt er zahlreiche Dienste in den Kirchenbezirken Karlsruhe-Land und Bruchsal-Bretten. „Es ist mir eine Ehre und Freude, wenn man mir zutraut, seelsorgerliche Dienste zu übernehmen“, sagt der Geistliche in seinem 77. Lebensjahr und betrachtet es als „Geschenk Gottes, im jetzigen Alter dazu beitragen zu können, Menschenleben mit der Botschaft von Jesus Christus zu bereichern“.

Neben seinem Beruf und den Enkelkindern frönt er noch einer weiteren Leidenschaft: dem Radfahren. Jährlich unternimmt er mehrtägige Radtouren von mehreren Hundert Kilometern Länge. Auf diese Weise ist er schon quer durch Europa gereist, von Leipzig bis London, von Lyon bis Luxemburg. Auch bei vielen Dienstwegen nutzt er das sportliche Verkehrsmittel.

Besonders geprägt wurde Wellmer durch intensive Kontakte zur Weltmission. Während seiner ersten Pfarrstelle, einer Gemeinde in der Ruhrgebietsstadt Wanne-Eickel, besuchte er etliche afrikanische und asiatische Länder, um Hilfsprojekte kennenzulernen. Bei den fremden Völkern habe er eine große „soziale und geistliche Not“ festgestellt, sagt er. Vielfach gebe ihr Glaube ihnen keinen rechten Halt. Besonders beeindruckten ihn die Missionare, Menschenrechtler und Mitarbeiter, die ihr Fachwissen, etwa bei der Entwicklung der Landwirtschaft oder beim Bau von Krankenstationen und Schulen, mit geistlichen Anliegen kombinieren konnten. In seiner Heimatgemeinde fand er stets eine große Spendenbereitschaft für die Projekte. „Die Leute geben viel mehr, wenn sie wissen, wofür“, ist er sich sicher.

Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit war für den Seelsorger stets, Flüchtlinge in ihrer Not zu unterstützen, angefangen mit den Boat People aus Vietnam in den 1980er Jahren und den Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien in den 90ern. Heute engagiert er sich weiterhin für den Karlsruher Verein „Freunde für Fremde“, der die Begegnung von Flüchtlingen, Ausländern und Einheimischen fördert. Als die familiäre Situation es gestattete – die drei Töchter waren inzwischen erwachsen –, wagte er mit seiner Frau im Jahr 2000 den Sprung ins Ausland und landete bei der deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in Budapest. In der kleinen Gruppe befanden sich überwiegend junge Familien aus allen Lebenslagen. Jedes Jahr im Sommer kam es zu einem großen Umbruch, da viele von ihnen wegzogen und neue dazukamen. „Es ist wie in einer Schwangerschaft, in neun Monaten ist alles erledigt“, stellt Wellmer schmunzelnd fest.

Neben der normalen Gemeindearbeit war ihm noch eine Aufgabe zugewiesen, die ihm besonders ans Herz gewachsen ist. In ganz Ungarn betreute er deutschsprachige Häftlinge. So kennt er mittlerweile fast alle ungarische Gefängnisse und die dortigen Verhältnisse, die er meist als überaus schwierig empfindet. Gelegentlich konnte er einige kleine Hafterleichterungen erwirken und außerdem seinen Schützlingen geistlichen Beistand geben. „Die Offenheit für Gott ist im Knast viel größer“, hat Wellmer erfahren.

Auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland besucht Andreas Wellmer weiterhin Inhaftierte in ungarischen Haftanstalten und pflegt den persönlichen Kontakt. Bisweilen hält er auch im Karlsruher Gefängnis einen Gottesdienst. „Ohne Gottes Hilfe, die Unterstützung meiner Frau und vieler engagierter Mitarbeiter in den christlichen Gemeinden und Behörden wäre mir mein Dienst niemals möglich gewesen“, resümiert der Pastor und fasst sein Leitmotiv in einem Bibelspruch zusammen: „Tue deinen Mund auf für die Stummen und für die Sache aller, die verlassen sind.“