Die Zahl der Fälle bleibt unklar
Der Freiburger Missbrauchsbericht wirft dem früheren Erzbischof schwere Rechtsverstöße vor. Welche Folgen kann das vor staatlichen Gerichten haben?
Statistik Warum weiß man nicht, wie viele Priester im Bistum rechtskräftig durch ein staatliches Gericht verurteilt wurden?
Weder die Staatsanwaltschaften noch die Gerichte erfassen Straftaten nach Berufsgruppen, sondern – wie auch in der jährlichen Polizeistatistik gelistet – nur nach Deliktarten. Dies bestätigen auf Nachfrage sowohl Klaus Stark, Sprecher des Landgerichts Freiburg, als auch der Freiburger Oberstaatsanwalt Michael Mächtel. Kurzum: Wie viele Priester in einem bestimmten Zeitraum rechtskräftig verurteilt wurden, ist von Seiten der Justiz nicht ermittelbar. Bekannt ist nur, dass es im Erzbistum Freiburg mehr als 540 Missbrauchs- beziehungsweise Missbrauchsverdachtsfälle gibt und mehr als 250 beschuldigte Priester sowie 33 weitere (nicht geweihte) Beschäftigte, etwa Diakone.
Auch Rechtsanwältin Angelika Musella, externe Missbrauchsbeauftragte für das Erzbistum Freiburg, bestätigt mit Blick auf diese Zahlen, die wesentlich auf der MHG-Studie von 2018 basieren: „Es lässt sich nicht sagen, wie viele Fälle mit rechtskräftigem Urteil abgeschlossen wurden.“ Was das erzbischöfliche Ordinariat selbst betrifft, liegen natürlich – dies war dem Abschlussbericht der unabhängigen Arbeitsgruppe (AG) Aktenanalyse zu entnehmen – keine verlässlichen Angaben vor. Zwar hat man manche „klandestinen“ Dinge überraschenderweise protokolliert, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren, aber eben Verbrechen oder mutmaßliche Verbrechen bewusst lückenhaft dokumentiert und oder betreffende Akten vernichtet.
Anzeigepflicht? Sind kirchenverantwortliche Führungskräfte wie der Erzbischof nicht verpflichtet, alle glaubhaften Missbrauchsverdachtsfälle den staatlichen Ermittlungsbehörden zu melden? Wann machen sie sich strafbar?
Es gibt zwar eine moralisch-ethische Verpflichtung, staatlichen Ermittlungsbehörden derartige mutmaßliche Straftaten mitzuteilen, wenn man davon weiß, aber eine Anzeigepflicht gibt es nicht.
In den Ordinariatsprotokollen finden sich laut AG Hinweise wie jener des Personalreferenten Robert Zollitsch nach einem Besuch der Staatsanwaltschaft im Ordinariat, dass Akten besser versteckt werden müssten. Für einen Vorsatz bräuchte es aber nicht bloß diese Ankündigung, sondern einen richtigen Nachweis, dass man brisante Akten hat verschwinden lassen. Das wäre eine belegbare Strafvereitelung (Paragraf 258 Strafgesetzbuch/StGB). Auch eine wahrheitswidrige Aussage gegenüber Ermittlern wäre eine Strafvereitelung.
Die Frage ist auch, ob aufgrund einer sogenannten Garantenstellung eine Strafvereitelung gemäß § 258 StGB durch Unterlassen begangen werden könnte – ob etwa aufgrund der Stellung als Vorgesetzter, der auch eine Verpflichtung gegenüber betreuten Kindern hat, eine Anzeigepflicht bestehen könnte. Das ist aber nicht der Fall, da die kirchlichen Amtsträger in keiner Weise von Rechts wegen dazu berufen sind, an einer Strafverfolgung mitzuwirken.
Fraglich könnte aber noch sein, ob aus einer Doppelrolle als einerseits Personalentscheider und Funktionsträger in einer Kinder- oder Jugendeinrichtung bei bestehendem Wissen um pädokriminelle Vortaten eine Versetzung des Täters oder Tatverdächtigen auf eine neue Stelle erfolgt, die neue Taten ermöglicht. Wenn es dann zu solchen gekommen sein sollte, könnte eine „Garantenstellung“ zu einer möglichen Strafbarkeit wegen Beihilfe oder wegen Unterlassens führen.
Neue Fälle? Sind bei der Staatsanwaltschaft seit Bekanntwerden des AG-Abschlussberichts am Dienstag weitere Missbrauchsfälle durch Kleriker angezeigt worden?
Nein, sagt Michael Mächtel, Oberstaatsanwalt und Sprecher der Ermittlungsbehörde. Weder seien gegen den ehemaligen Erzbischof Robert Zollitsch noch gegen andere Verantwortliche des erzbischöflichen Ordinariats Anzeigen eingegangen. Allerdings haben sich seit Dienstag bei der Missbrauchsbeauftragten Angelika Musella fünf weitere Personen telefonisch gemeldet. Ob es sich dabei in allen Fällen um selbst Betroffene handelt, müsse erst noch eruiert werden.
Ermittlungsverfahren Wann wird die Staatsanwaltschaft aktiv und ermittelt in derartigen Fällen?
„Wenn ein Staatsanwalt/eine Staatsanwältin Kenntnis von einer möglichen Straftat im Sinne eines Anfangsverdachts hat, leitet er ein Ermittlungsverfahren ein. Anhaltspunkte für einen Anfangsverdacht können, müssen aber nicht über eine Strafanzeige zu uns gelangen“, sagt Oberstaatsanwalt Michael Mächtel.
Causa Zollitsch Sieht die Staatsanwaltschaft durch Veröffentlichung des AG-Abschlussberichts Anhaltspunkte für Straftaten durch Erzbischof Robert Zollitsch oder andere kirchliche Führungskräfte?
Oberstaatsanwalt Mächtel sagt: „Alleine aus der Pressekonferenz vom 18. 4. ergeben sich – soweit bisher ersichtlich – keine Anhaltspunkte für neue Straftaten.“ Die Frage einer möglichen Strafbarkeit einzelner Tatverdächtiger wegen sexuellen Missbrauchs sei bereits Gegenstand umfangreicher Ermittlungen nach Veröffentlichung der MHG-Studie im Jahr 2018 gewesen. „Neue Erkenntnisse hinsichtlich strafrechtlich relevanter Einzelfälle oder neue, bisher nicht bekannte Einzelfälle haben sich seither nicht ergeben“, so Mächtel. Unabhängig davon werde man den Abschlussbericht „sichten und prüfen, ob und inwieweit sich daraus ein Anfangsverdacht gegen bestimmte Personen in nicht verjährter Zeit und damit für verfolgbare Straftaten ergeben kann“, erklärt Mächtel.
Sexueller Missbrauch Welche Tatbestände treffen in den Missbrauchsfällen zu?
Geht es nicht um die Vertuscher, sondern um die direkten Täter, kommen mehrere Tatbestände in Frage. Paragraf 174 StGB „Sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen“ wäre sicherlich zu prüfen. Paragraf 176 StGB regelt den sexuellen Missbrauch von Kindern (unter 14 Jahren) – die Tat muss mit einer Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft werden. 176c StGB sieht vor, dass bei „Beischlaf“ beziehungsweise ähnlichen Handlungen, die mit dem Eindringen in den Körper verbunden sind, die Mindeststrafe zwei Jahre beträgt, bei schweren körperlichen Misshandlungen beträgt die Mindeststrafe dort fünf Jahre. Die Mindeststrafen sind immer pro Tat zu verstehen. Wo das Gesetz keine konkrete Höchststrafe nennt, beträgt sie 15 Jahre.
Paragraf 177 StGB regelt vieles vom „einfachen“ sexuellen Übergriff in Absatz 1 (mit dann bis zu fünf Jahren Strafe) bis hin zu Vergewaltigung unter Einsatz einer Waffe (Absatz 8) mit dann fünf Jahren Mindeststrafe und gilt bei jugendlichen Opfern, wird aber teilweise durch speziellere Vorschriften „verdrängt“, teilweise können auch mehrere Gesetze gleichzeitig verletzt sein. Der sexuelle Missbrauch von Jugendlichen ist in Paragraf 182 StGB geregelt. Was die Verjährung betrifft, muss differenziert werden: Sexueller Missbrauch ohne Eindringen in den Körper des Kindes hat eine Verjährung nach zehn Jahren zur Folge, werden die Handlungen nicht am Kind vorgenommen, sondern in dessen Anwesenheit, beträgt die Verjährungsfrist fünf Jahre. Bei schweren Missbrauchsfällen mit gesundheitlichen Schäden für das Opfer tritt die Verjährung nach 20 Jahren ein. Der Gesetzgeber hat den Beginn der Verjährungsfrist mehrfach angehoben: Seit 2015 beginnt die Verjährung einer solchen Straftat erst mit dem vollendeten 30. Lebensjahr. Von 2013 bis 2015 galt das vollendete 21. Lebensjahr als Verjährungsanfang, vor 2013 das 18. Lebensjahr. Die Opfer sollen viel Zeit für die Entscheidung bekommen, sich zu melden.