Süddeutsche Zeitung, 19.04.2023

 

Bericht belastet Alt-Erzbischof Zollitsch

Der frühere Vorsitzende der Bischofskonferenz soll Missbrauch vertuscht haben

ANNETTE ZOCH

München – Das Gebiet des Erzbistums Freiburg erstreckt sich vom Odenwald ganz im Norden über den Schwarzwald bis zur Schwäbischen Alb und zum Bodensee. Es ist eine sonnenverwöhnte Gegend, idyllisch und ländlich. Auf einer Autofahrt durch sein Erzbistum soll der damalige Erzbischof Oskar Saier eines Tages lapidar bemerkt haben: „Dort drüben habe ich auch einen versteckelt.“ Gemeint war ein Priester, der woanders Kinder missbraucht hatte. Heimlich war er versetzt worden.

Der pensionierte Richter Eugen Endress erzählt diese Episode am Dienstag, er sitzt einer unabhängigen Arbeitsgruppe mit dem Namen „Machtstrukturen und Aktenanalyse“ vor, die nach vier Jahren Arbeit ihren Bericht über den Umgang mit sexuellem Missbrauch in der Erzdiözese Freiburg vorgelegt hat. Freiburg ist nicht irgendeine Diözese – es ist die Heimat von Robert Zollitsch, der nicht nur von 2003 bis 2014 Erzbischof war, sondern auch von 2008 bis 2014 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Also in jener Zeit, als die ganze Dimension des Missbrauchsskandals in Deutschland bekannt wurde.


Zollitsch wusste offenbar längst um die Zustände in seiner Freiburger Erzdiözese

Damals zeigte sich Zollitsch öffentlich bestürzt über die Missbrauchsfälle, beteuerte – auch gegenüber der Politik – den unbedingten Aufklärungswillen der Kirche, reiste zu Papst Benedikt XVI. und holte sich von ihm Rückendeckung – dies war das Bild nach außen. Nach innen aber, das zeigte der am Dienstag vorgelegte Missbrauchsbericht frappierend – sah es ganz anders aus. Zollitsch wusste offensichtlich längst um die Zustände in seiner Kirche und war weiterhin nicht besonders kooperativ.

Denn Zollitsch war von 1983 bis zu seiner Wahl als Erzbischof im Jahr 2003 Personalreferent der Erzdiözese und damit einer der engsten Mitarbeiter von Oskar Saier – und als solcher von Anfang an, so die Autoren des Berichts, mit Missbrauchsfällen befasst. Saier habe eine „bewusste Ignoranz“ an den Tag gelegt und von den Taten seiner Priester nichts wissen wollen. „Mach Du’s, Robert“ sei im Erzbistum ein geflügeltes Wort gewesen. Saier selbst habe gesagt: „Über meine Priester lasse ich nichts kommen.“

Zollitsch habe – erst als Personalreferent, dann als Erzbischof – alles getan, um beschuldigte Priester aus der Schusslinie zu nehmen. Er habe Priester versetzt und die betreffenden Gemeinden nicht über deren Vorgeschichte informiert. Für Betroffene und Angehörige habe es keine Hilfen gegeben: „Sie wurden allein gelassen.“ Besonders frappierend: Keinen einzigen Missbrauchsfall habe Zollitsch – wie kirchenrechtlich eigentlich seit 2001 vorgeschrieben – an die Glaubenskongregation nach Rom gemeldet. Dass diese „Nullbilanz“ in Rom „gänzlich unbemerkt“ blieb, sei fernliegend, schreiben die Juristen.

Gleichzeitig sei Zollitsch aber zum Beispiel gegen einen Priester, der einvernehmliche Beziehungen mit erwachsenen Frauen hatte, entschieden vorgegangen: „Da hat der Erzbischof das kanonische Recht entdeckt“, sagte Endress. „Was muss man da schlussfolgern? Offensichtlich war jener Erzbischof der Ansicht, einvernehmliche sexuelle Verhältnisse seien strafverfolgungswürdiger als der Missbrauch von Kindern und Jugendlichen.“

Der heutige Freiburger Erzbischof Stephan Burger hat seinen Vorgänger nun in Rom angezeigt, um kirchenrechtlich prüfen zu lassen, ob er sich falsch verhalten hat. „Die notwendigen Maßnahmen dazu sind eingeleitet“, sagte Burger, ohne weitere Details zu nennen. Das Versagen seiner Vorgänger mache ihn fassungslos. Burger, der zuvor Offizial war, räumte auch eigene Fehler ein.

Die Arbeitsgruppe, bestehend aus externen Fachleuten aus Justiz und Kriminalpolizei, hatte Mitarbeitende des Bistums und Betroffene befragt und vor allem Aktenbestände untersucht. Diese belegten, dass der Staatsanwaltschaft Akten vorenthalten wurden und Missbrauchstaten bewusst nicht in der Personalakte aufgenommen wurden. In den Akten fanden die Forscher zum Beispiel eine Protokollnotiz aus der Zeit, als Zollitsch noch Personalreferent war. Damals ging es um mögliche staatsanwaltschaftliche Untersuchungen im Ordinariat: „Hier ist besonders der Punkt über die Beschlagnahme von kirchlichen Akten durch die Staatsanwaltschaft von überdiözesanem Interesse“, ist da zu lesen. „In diesem Zusammenhang will Domkapitular Dr. Zollitsch nach neuen Möglichkeiten der Unterbringung der Spezialakten in unserem Haus sorgen.“

Der 84-Jährige, der jüngst von Freiburg in eine Seniorenresidenz in Mannheim gezogen war, hatte über seinen Rechtsanwalt mitteilen lassen, dass er sich zu dem Missbrauchsbericht vorerst nicht äußern will. Im Herbst vergangenen Jahres hatte er sich überraschend mit einer eigenen Homepage und einem aufwändig produzierten Video zu Wort gemeldet, in dem er „gravierende Fehler“ eingeräumt hatte. Zollitsch hatte der AG im Jahr 2020 zunächst noch Rede und Antwort gestanden, dann aber nicht mehr kooperiert.

Eugen Endress und seinem Co-Autor, dem pensionierten Oberstaatsanwalt Edgar Villwock, ist es wichtig zu betonen, dass ihr Text ein Bericht sei, kein Gutachten. Man habe nicht alle Fälle des Erzbistums untersucht, sondern nur exemplarisch einzelne Fälle herausgegriffen. Die Studie reiht sich ein in eine Vielzahl von Studien und Gutachten , die sich in Methodik und Herangehensweise teilweise erheblich unterscheiden. Manche wurden von Rechtsanwaltskanzleien erstellt, andere durch Universitäten. 27 katholische Diözesen gibt es in Deutschland, doch erst der kleinste Teil hat Gutachten vorgelegt.

„Wer glaubt, dass es einen Schlussstrich gibt, hat nichts verstanden“, sagte der Theologe Magnus Striet, Vorsitzender der Aufarbeitungskommission im Erzbistum Freiburg. „Es werden Wunden bleiben, die nicht heilen.“

ANNETTE ZOCH