Alles für den Schutz der Priester
Die Amtszeiten von vier Freiburger Erzbischöfen haben Juristen auf den Umgang mit Missbrauchsfällen hin untersucht. Dabei stechen die Episkopate von Robert Zollitsch und Oskar Saier als Zeit der Vertuschung hervor.
Robert Zollitschs Aufstieg in die Führungsriege begann 1983 als Personalreferent unter Erzbischof Saier. 31 Jahre lang hatte er Verantwortung für das kirchliche Personal im Erzbistum, von 2003 an als Erzbischof, die letzten Monate bis März 2014 als Apostolischer Administrator. Diese lange Dauer habe Zollitsch im Bistum „eine singuläre Stellung“ gegeben, schreiben die Autoren des Abschlussberichts der unabhängigen Arbeitsgruppe (AG) „Machtstrukturen und Aktenanalyse“, der pensionierte Vorsitzende Richter des Oberlandesgerichts (OLG), Eugen Endress, und der pensionierte Oberstaatsanwalt Edgar Villwock. Unterstützt von zwei pensionierten Kriminalpolizisten, studierten sie vier Jahre lang Akten, befragten ehemalige und aktuelle Mitarbeiter und auch 20 Missbrauchsopfer.
Um einen Eindruck von Zollitschs Stellung unter Saier zu gewinnen, haben sie neben dem Aktenstudium elf Personen „aus der zweiten Führungsebene“ des Ordinariats nach der Position des Personalreferenten Zollitsch gefragt. Der Tenor aller: Nicht Erzbischof Saier, sondern Zollitsch sei „der eigentliche Mann“ gewesen, der im Ordinariat „die Fäden in der Hand gehabt“ und „den Karren vorangebracht“ habe, „an ihm sei nichts vorbeigegangen“. Zollitsch habe – so heißt es in dem Bericht – seinem Vorgesetzten Saier die Entscheidungen „vorgegeben“ und auch entschieden, ob ein Vorgang in der „normalen Personalakte“ oder „im Giftschrank“ lande oder gleich vernichtet werde. Saiers geflügeltes Wort sei gewesen: „Robert, erledige du das!“. Zollitsch habe „die subjektive Einstellung gehabt: ‚Ich kann alles‘ und ‚Ich brauche keinen Rat‘“, wird ein Mitarbeiter zitiert.
So wie als Personalreferent habe Zollitsch auch als Erzbischof von 2003 bis 2014 gehandelt. Statt ordnungsgemäß kirchenrechtliche Strafverfahren einzuleiten – eine Anzeigepflicht bei staatlichen Ermittlungsbehörden bestand und besteht auch heute nicht –, beließ er es demnach häufig bei Ermahnungen, Versetzungen oder Verrentungen Beschuldigter. So wies etwa der interne Missbrauchsbeauftragte, Domkapitular Eugen Maier, im September 2010, als bundesweit etliche Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche publik wurden, auf vier Fälle hin, in denen Zollitsch „unangemessen“ verfahren sei. Weder seien die Opfer angehört noch seien die betroffenen Kirchengemeinden angemessen informiert worden, so dass sie hätten kontrollieren können, was es mit diesem Priester auf sich hat und ob er beispielsweise in der Jugendarbeit eingesetzt werden kann, heißt es im AG-Bericht.
Saiers und auch Zollitschs oberste Maxime sei es gewesen, das priesterliche Amt vor Schaden zu bewahren. Eine Führungsperson im Ordinariat teilte der AG mit, dass für Zollitsch der Priesterberuf „eine bestimmte Aura“ beinhalte und der Missbrauch eines Priesters „für ihn eigentlich nicht vorstellbar gewesen“ sei.
Der Schein war ihm demnach wichtiger als das Sein. Hierfür habe Zollitsch auch mit falschen Zahlen operiert: So gab er in einem Buch 2008 an, als Personalreferent von 1983 bis 2003 nur mit zwei Missbrauchsfällen zu tun gehabt zu haben. Dabei waren es nachweislich in der Hälfte dieser Zeit schon deutlich mehr. 2010 geißelte Zollitsch – auch das sei Teil der Fassade gewesen – einen „zum Teil übermäßigen Täterschutz“, den die Kirche praktiziert habe. Am eigenen Verhalten änderte er dennoch nichts. In Ordinariatssitzungen, in denen die Führungsriege tagte, habe es fast nie Debatten zu Missbrauchsfällen gegeben, alle Beteiligten hätten Zollitschs Worte stumm zur Kenntnis genommen, werden Beteiligte der Sitzungen zitiert.
2011 stieg Rechtsanwältin Angelika Musella als externe Missbrauchsbeauftragte in die Bearbeitung der stark zunehmenden Fälle ein. Schon 2010 hatte der interne Beauftragte Maier im Ordinariat um Hilfe gebeten, da er ebenso überlastet war wie bald darauf auch Musella.
Weisungen an mutmaßliche Täter wurden oft nur mündlich ausgesprochen, weshalb die Maßnahmen häufig nicht kontrolliert wurden. So habe Pfarrer Franz B. im Oberharmersbacher Missbrauchsfall – im Bericht anonymisiert als „Fall J“ – in seinem neuen Zuhause, einem Altenheim, weiterhin Jugendliche empfangen – trotz Weisung, sich von diesen fernzuhalten, so die AG.
Auch beim Thema Aktenaufbewahrung stießen Endress und Villwock auf erhebliche Defizite. Nicht nur seien alle Protokolle der Ordinariatssitzungen vor 1992 spurlos verschwunden, es fehlten auch fast alle Protokolle aus den Jahren 1998/99. Eine Mitarbeiterin behauptete, sie „aus Versehen“ gelöscht zu haben, allerdings seien auch die damals noch parallel aufbewahrten gedruckten Fassungen unauffindbar. Die Autoren des Berichts kommen zum Schluss, dass so wichtige Akten ohne Zollitschs Wissen nicht hätten beseitigt oder vernichtet werden können.
Eigentlich sollten brisante Akten von Beschuldigten, die gesondert in einem Geheimarchiv („Giftschrank“) aufbewahrt wurden, nach deren Tod gelöscht werden, nur ein „Tatbestandsbericht mit dem Wortlaut des Endurteils“ sollte erhalten bleiben, so sieht es das kanonische Recht vor. Dennoch wurde oft schon zu Lebzeiten der mutmaßlichen Täter brisantes Material beseitigt. Derartig lückenhafte Aktenbestände gibt es laut dem Bericht vor allem aus Zollitschs Zeit als Personalreferent, später weniger. Anstatt mit staatlichen Ermittlern zu kooperieren, habe Zollitsch überlegt, wie belastende Dokumente besser vor dem Zugriff von Polizei und Staatsanwaltschaft verborgen werden könnten, wie aus internen Protokollen hervorgehe. Endress und Villwock sprechen von „massiven Vertuschungsvorhaben“.
Seit 2001 konkretisierten und verschärften Vatikan und Deutsche Bischofskonferenz (DBK) peu à peu Gesetze und Leitlinien zur Bearbeitung von Missbrauchsfällen an Kindern und Jugendlichen. Doch Zollitsch, seit 2008 Vorsitzender der DBK, setzte diese Normen laut AG bis 2013 nicht um, nicht einmal die der eigenen Diözese. Kirchenrechtlich verlangte Voruntersuchungen wurden bei Anschuldigungen demnach nicht eingeleitet, Verfahrensabläufe nicht eingehalten. Kurios mute an, dass Zollitsch im Fall eines Priesters, der einvernehmliche, sexuelle Beziehungen mit erwachsenen Frauen hatte, Maßnahmen nach Kirchenrecht einleitete, nicht aber in vielen Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern – „geradezu erschreckend“, urteilen Villwock und Endress. Erst im April 2014, kurz vor Stephan Burgers Amtsantritt, leitete Zollitsch auf dessen Betreiben gegen sieben Priester Voruntersuchungen nach kanonischem Recht ein.
Bizarrer Höhepunkt des Vertuschens war laut dem Bericht, als Zollitschs DBK-Sekretär im Februar 2010 von allen 27 deutschen Bistümern eine Aufstellung ihrer Missbrauchsfälle anforderte – und ausgerechnet das Erzbistum Freiburg, anders als andere, nichts lieferte. Ebenso habe Zollitsch bis Ende seiner Amtszeit keinen einzigen voruntersuchten Fall an die Glaubenskongregation nach Rom gemeldet, wie es vorgeschrieben war. Villwock und Endress sprechen von einer „ausnahmslosen Nullbilanz“.
Dabei wiesen Mitarbeiter wie Michael Hauser als Vorsteher des Kirchengerichts in der Erzdiözese (Offizial) Zollitsch explizit auf seine Pflicht hin, Fälle zu melden. „Insgesamt hat es den Anschein, dass nicht Erzbischof Dr. Zollitsch, sondern das erzbischöfliche Umfeld die Brisanz der Situation erkannt und von sich aus entsprechende Aktivitäten entfaltet hatte“, bilanzieren Villwock und Endress.
Erzbischof Oskar Saier, vor Zollitsch von 1978 bis 2002 Erzbischof, wird durch den Bericht ebenfalls schwer belastet. Zeitzeugen beschrieben ihn demnach als unsicher und schwach. Entscheidungen über den Umgang mit Missbrauchsfällen habe er nur zu gern seinem tatkräftigen Personalreferenten Zollitsch überlassen. Er selbst habe mit dem „ganzen Schweinekram“ nichts zu tun haben wollen, ihm seien Dinge „unterhalb der Gürtellinie“ peinlich gewesen, wird eine Person, die ihn erlebt hat, zitiert. „Auf meine Priester lasse ich nichts kommen!“, habe Saier gesagt. Und auf einer Fahrt nahe des neuen Dienstortes des Pfarrers im Fall Oberharmersbach habe er unbekümmert gesagt: „Dort drüben habe ich auch einen versteckt!“
Besonders irritierend sei Saiers „‚Fixierung‘ allein auf die Priester und deren Ansehen“, schreiben Endress und Villwock. Missbrauchsbetroffene scheine er nicht in den Blick genommen zu haben. „Er lehnte eine Unterrichtung der staatlichen Strafverfolgungsbehörden oder auch nur deren Unterstützung ausnahmslos ab“, heißt es im Bericht. Dabei habe Saiers „Vertuschungshaltung“ mit „hoher Wahrscheinlichkeit“ auf „einvernehmlichem Vorgehen“ mit Zollitsch beruht.
Saiers Vorgänger Hermann Schäufele, der 1958 sein Amt antrat, reiht sich nach Erkenntnis der AG in seinem Umgang mit klerikalen Missbrauchstaten widerspruchsfrei in das Verhalten seiner Amtsnachfolger Saier und Zollitsch ein. Allerdings hat die AG nur einen Fall aus seiner Amtszeit untersucht.
Das Wirken von Weihbischof Paul Wehrle, der zwischen den Amtszeiten von Saier und Zollitsch ab Juli 2002 das Bistum für ein Jahr als Diözesanadministrator leitete, unterscheidet sich laut der AG hier klar und positiv. Er setzte demnach rasch die von der DBK verabschiedeten Leitlinien „Zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche“ in Kraft und handelte im Missbrauchsfall eines Ständigen Diakons konsequent und ordnungsgemäß, so dass der Mann schließlich verurteilt wurde. Das Urteil von Endress und Villwock ist eindeutig: „Wenngleich die Amtszeit des Diözesanadministrators nur etwa ein Jahr dauerte, hätte er im Umgang mit und der Behandlung von Missbrauchsfällen gegen Kleriker sowohl – ex post – Erzbischof Dr. Saier als auch insbesondere dem nachfolgenden Erzbischof Dr. Zollitsch (...) als Vorbild dienen können.“
Da Saier und Zollitsch laut dem Bericht ihre Offiziale kaum in Missbrauchsfälle einbezogen, habe Stephan Burger, seit September 2007 in diesem Amt, „keine nahen dienstlichen Kontakte“ mit Zollitsch gehabt und sei nicht über Missbrauchsfälle informiert worden. Dass er sich seit Spätherbst 2013 eingehend mit solchen Vorwürfen befasste, sei auf eigene Faust geschehen. Als er dann nach seiner Wahl zum Erzbischof das „Geheimarchiv“ in Augenschein nahm, sei er auf einen „Haufen verschlossener Umschläge, Umschläge, Umschläge...“ (Burger) gestoßen. Soweit die Inhalte Missbrauchsfälle betrafen, habe Burger sie den Forschern übergeben, die damals im Auftrag der DBK die große Missbrauchstudie erarbeiteten. Er habe die Ordinariatssitzungen für Nichtkleriker geöffnet und für vertrauliche Personalangelegenheiten eigens eine „Personalkommission“ eingerichtet.
Sodann habe er eine umfassende Überprüfung der Missbrauchsfälle im Erzbistum veranlasst. Die sieben noch unter Zollitsch voruntersuchten Fälle leitete er laut AG an die Glaubenskongregation weiter; bis 2021 folgten 34 weitere Fälle. „Der Umgang mit Missbrauchsbeschuldigungen gegen Kleriker hat sich im Laufe des Episkopats von Erzbischof Stephan Burger nach Einschätzung der AG nachhaltig zum Positiven verändert“, schreiben Endress und Villwock abschließend. Abgesehen von kleineren Defiziten bei Dokumentation und interner Zusammenarbeit habe die Untersuchung für Burgers Amtszeit „keine Hinweise auf Vertuschungen“ erbracht.