Badische Zeitung Freiburg im Breisgau, 19.04.2023

 

„Der Bericht bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen“

Wie viele andere Menschen im Erzbistum Freiburg, die von Priestern sexuell missbraucht worden sind, hat Julia Sander den Bericht mit Spannung erwartet. Nun bewertet sie ihn aus Sicht einer Betroffenen.

Wie beurteilen Sie den Bericht der Arbeitsgruppe „Machtstrukturen und Aktenanalyse“, Frau Sander?

Sander: Für mich ist der Bericht das Schrecklichste, was ich je gelesen habe. Ich bin den Menschen, die den Bericht erarbeitet haben, sehr dankbar, und allen, die dazu beigetragen haben. Man kann sich ausmalen, wie verstörend es gewesen sein muss, die Dokumente zu lesen und sich mit den Taten auseinanderzusetzen. Es ist ein sehr guter, präziser Bericht mit eindeutigen Ergebnissen. Er bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen.

Was sind die bemerkenswertesten Befunde aus Ihrer Sicht?

Sander: Mich hat es trotz allen Vorwissens erschüttert zu sehen, wie viel Macht ein Mensch in einer Institution wie der Erzdiözese haben kann, über wie viele Jahrzehnte er seine Umgebung bewusst im Ungewissen lassen kann und wie viele Kinder zu Schaden gekommen sind, ohne dass jemand eingegriffen hätte.

Über wen vor allem sprechen Sie?

Sander: Ich spreche hauptsächlich über Robert Zollitsch, der aus dem Bericht als Hauptschuldiger für das vertuschende Verhalten hervorgeht und als derjenige, der die meisten Fälle eines unzureichenden Umgangs mit Ereignissen zu verantworten hat, in denen Betroffene durch Priester sexualisierte Gewalt erfahren haben. Zugleich zeigt der Bericht, dass Zollitsch derjenige ist, der die Macht gehabt hätte, Betroffenen solches Leid zu ersparen, Verbrechen früh aufzuklären und Geschädigten Hilfe zukommen zu lassen. Ich kann mir nicht ausmalen, wie es wäre, mit einer solchen Schuld zu leben.

Zollitsch ist befragt worden. Oft heißt es, er habe auf eine Stellungnahme verzichtet. Wie nehmen Sie das wahr?

Sander: Aus seinen Reaktionen kann ich nicht entnehmen, dass er aufklären will, dass er sich damit befasst hätte, welchen Schaden er verursacht hat oder was er tun kann, um etwas wieder gut zu machen.

Wie hat sich sein Handeln auf das Leben der betroffenen Kinder ausgewirkt?

Sander: Zollitsch hat alles dafür getan, Priester, die Missbrauch begangen haben, zu schützen und als Menschen erscheinen zu lassen, die über jeden Verdacht erhaben sind. Das hatte zur Folge, dass nicht nur weitere Kinder missbraucht werden konnten, sondern auch, dass betroffenen Kindern nicht geglaubt wurde, oft nicht einmal von den eigenen Eltern. Sie lernten: Der Priester hat recht, was er verlangt, muss ich ertragen. Das hat sich bei uns Betroffenen teils in die Selbstwahrnehmung hineingefressen, viele quälen sich noch als Erwachsene mit der Frage, inwiefern sie selbst schuld sind am erlittenen Missbrauch. Die Vertuschung, die mangelnde Aufklärung und Sanktionierung der Täter sowie die Versetzung und unterbliebene Überwachung der Täter haben dazu beigetragen, dass weitere Taten stattfanden.

Schon im Vorfeld gab es Kritik an dem Bericht, weil er unterhalb der Führungsebene im Ordinariat keine Namen und Orte nennt. Wie sehen Sie das?

Sander: Ich kann die Kritik verstehen, weil man sich wünscht, dass alles lückenlos aufgeklärt wird. Aber ohne den Schutz der Anonymität wäre es nicht möglich gewesen, all die Beweise zusammenzutragen. Betroffene hätten nicht ausgesagt, wenn ihr Name und der Tatort im Bericht genannt worden wären. Eine vollständige Aufklärung der Tatkontexte, ohne Betroffene zu beschädigen, hätten die Führungsverantwortlichen jederzeit leisten können. Wenn Zollitsch gesagt hätte, wann er von welchen Taten Kenntnis erlangt hat und wie er darauf jeweils reagiert hat, insbesondere wen er wann wohin versetzt hat, hätte kein Betroffener befragt werden müssen.

Welche Konsequenzen aus dem Bericht erwarten Sie jetzt im Ordinariat?

Sander: Ich erwarte, dass der Bericht nicht geräuschlos durchgeht, sondern dass man sich die Ebenen unter der Führungsriege genau anschaut. Welche Personen hatten und haben Personalverantwortung und waren an Vertuschungen zum Täterschutz beteiligt? In gewisser Weise erwarte ich, dass hier aufgeräumt wird. Außerdem müssen alle Strukturen, die missbrauchsanfällig sind, angeschaut und demokratisch umgebaut werden.

Und was fordern Sie für Betroffene?

Sander: Das Erzbistum Freiburg ist bei der Hilfe für Betroffene und in seinem ernsthaften Aufklärungswillen weiter als andere Bistümer, doch alles hängt vom Erzbischof ab. Was passiert, wenn eines Tages ein anderer den Posten von Stephan Burger übernimmt? Ich wünsche mir, dass sich Politik und Kirche an einen Tisch setzen und gemeinsam überlegen, wie Betroffenenfürsorge aussehen kann. Denn all die kirchlichen Missbrauchsfälle sind ja zugleich Kinderschutzfälle, bei denen der Staat versagt hat. Wenn Landräte gemeinsam schauen würden, wie Betroffene vor dem staatlichen Opferentschädigungsgesetz anerkannt werden können, bekämen sie dauerhaft und sicher die Hilfe, die sie brauchen.

Julia Sander (42) hat Pädagogik studiert und als Erzieherin gearbeitet. Seit Juli 2021 engagiert sie sich im Betroffenenbeirat in der Erzdiözese Freiburg.