Badisches Tagblatt Baden-Baden, 11.04.2023

 

„Diese Warterei zermürbt“

Was die Betroffene Sabine Vollmer vom Freiburger Missbrauchsgutachten erwartet

Von Dieter Klink

Freiburg/Karlsruhe – Sie hat ein mulmiges Gefühl, Tag für Tag wird sie nervöser. Wenn am 18. April in Freiburg das Missbrauchsgutachten des Erzbistums vorgestellt wird, möchte Sabine Vollmer genau hinhören. Als Jugendliche war sie selbst Opfer sexuellen Missbrauchs in der Kirche und engagiert sich heute im diözesanen Betroffenenbeirat.

Vollmer heißt in Wahrheit anders, sie hat sich für die Öffentlichkeit ein Pseudonym zugelegt.

Šie hofft, dass der Bericht, den vier externe Fachleute erarbeiten und am 18. April vorlegen, Klarheit darüber bringt, welche Strukturen Vertuschung und Missbrauch in der katholischen Kirche möglich gemacht haben.

„Ich bin in einer Doppelrolle“, erzählt sie im Gespräch mit dieser Redaktion. Als Vorsitzende des Beirats hat sie hohe Erwartungen an den Bericht und hofft, dass er nicht zu Enttäuschungen führt. „Dieses Gutachten ist für die Betroffenen extrem wichtig, weil sie schon seit 13 Jahren darauf warten.“

13 lange Jahre. 2010 kam der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche ans Licht. Es müsse nun endlich aufgedeckt werden, wie das Macht- und Vertuschungssystem funktioniert hat, fordert Vollmer. Konsequenzen seien zügig zu ziehen.

Es müsse alles getan werden, um künftig sexualisierte Gewalt in der Kirche so weit wie möglich zu verhindern. Zudem hofft sie, dass der Bericht verdeutlicht: „Die Schuld lag nie bei den Betroffenen.“ Es solle klar dokumentiert werden: „Der Täter und die Mittäter, die sie gedeckt haben, sind schuld – nicht das Opfer.“

Vollmer spricht von Schuldgefühlen. Diese gebe es immer noch. Nach so langer Zeit. Dass man Schuld auf sich geladen hat, weil man von dem Missbrauch lange niemandem erzählt hat. Oder weil ein Priester einfach versetzt wurde und woanders sein Unwesen weitertrieb. Trägt man daran Schuld?

Aber wer hätte damals zugehört, wenn man vom Missbrauch erzählt hätte – in dem Vertuschungsverbund katholische Kirche? Das Gutachten, glaubt sie, werde bestätigen, „was man als Betroffener schon immer gewusst hat, einem aber niemand geglaubt hat“.

Alte Erinnerungen und Gefühle

13 lange Jahre. Für viele komme der Bericht des Erzbistums, dessen Veröffentlichung mehrfach verschoben wurde, bereits zu spät. „Viele, die eigentlich das Gutachten gerne gelesen hätten, sind schon verstorben. Sie erleben die Veröffentlichung nun leider nicht mehr, das ist traurige Wahrheit.“

Auch sie selbst und der Betroffenenbeirat hätten sich den Bericht schon viel früher gewünscht. „Diese Warterei zermürbt. Man will ja auch noch was anderes in seinem Leben machen, man will irgendwann abschließen. Man kann aber nicht mit dem Kapitel abschließen, solange nicht alle Fragen beantwortet sind.“

Und Fragen hat sie auch weiterhin. Kirchenspezifische und ganz persönliche. „Es ist schwer abzuschätzen, welche Dynamiken sich nach der Veröffentlichung entwickeln. Und ich habe persönlich auch Sorge, dass einen manches aus dem Bericht triggern kann und alte Erinnerungen und Gefühle geweckt werden.“

Das ist die bange Frage für sie: Kommen wieder ungute Erinnerungen hoch? „Wenn Sie traumatisiert sind, wissen Sie nie: Wann kommt ein Trigger und was löst der Trigger in Ihnen aus? Verfallen Sie wieder in eine Depression? Haben Sie tagelang schlechte Laune? Können Sie nicht schlafen? Was löst das auch seelisch in einem aus?“ Diese Ungewissheit sei schwer auszuhalten.

Immerhin: In den vergangenen Jahren sei im Freiburger Erzbistum schon einiges in Sachen Aufarbeitung passiert, sagt Vollmer. Man spüre, dass die Bistumsleitung mit Erzbischof Stephan Burger und Generalvikar Christoph Neubrand den Willen zu Veränderungen habe. Sie treffen sich regelmäßig, die Bistumsleitung und der Betroffenenbeirat, der aus zwei Männern und zwei Frauen besteht. Mindestens vier Mal im Jahr.

Lobenswert sei auch, dass es mit der externen Missbrauchsbeauftragten inzwischen eine sehr gute Anlaufstelle gebe. Die Juristin Angelika Musella habe Pionierarbeit geleistet und viel Gutes für die Betroffenen erreichen können – auch, indem sie ihnen erst einmal zuhörte.

„Für viele ist dieses erste Mal, wo sie von ihrem Fall erzählen, der entscheidende Wendepunkt im Leben. Für viele beginnt damit auch die persönliche Aufarbeitung“, berichtet Vollmer.

Aber da ist noch die Sache mit dem früheren Erzbischof Robert Zollitsch. Der Vorgänger Burgers, der von 2003 bis 2013 Freiburger Bischof und für sechs Jahre auch Vorsitzender der Bischofskonferenz, war, hatte in einem Video Fehler und Versäumnisse eingeräumt und sich bei den Betroffenen entschuldigt.

Vollmer genügt das nicht. „Es reicht nicht, Schuld zu bekennen und sich zu entschuldigen. Wir haben uns in einem offenen Brief gewünscht, dass Zollitsch den Worten Taten folgen lässt, und sind dazu auch im Austausch mit ihm. Denn auch wenn man nichts rückgängig machen kann, so kann man doch Gutes tun und einen Beitrag leisten, das Leid zu lindern.“

Wünschenswert wäre aus Vollmers Sicht, dass Zollitsch eine Stiftung gründet oder ein Spendenkonto für Betroffene einrichtet. So ähnlich habe das der Münchner Kardinal Reinhard Marx gemacht. Er hat aus seinem Privatvermögen an Missbrauchsopfer gespendet.

Freiburg ist mit dem Gutachten kein Pionier, auch andere deutsche Bistümer haben bereits ihre Studien vorgestellt, erst jüngst waren die Diözesen Mainz und Essen an der Reihe. Vollmer verfolgt das nicht mehr im Detail. „Man hält das nicht aus. Man verliert den Glauben an die Menschheit, wenn man sich in diese Abgründe begibt“, sagt sie. Es sei kaum zu glauben, was alles in dieser Kirche möglich gewesen sei. In einer Kirche, die sich der Nächstenliebe verschrieben habe.

Nach all dem, was ihr widerfuhr: Warum ist sie immer noch Mitglied? „Der Gedanke, auszutreten, kommt mir immer wieder. Vor allem wenn ich das Gefühl habe, dass die Institution Kirche einfach nicht in der Jetzt-Zeit ankommen will. Aber es gibt halt auch noch die positiven Erfahrungen, die man vor Ort in seiner eigenen Gemeinde gemacht hat oder auch noch heute erlebt.“ Sie hat die Abgründe erlebt und doch nennt sie einen weiteren Grund, der sie in dieser Kirche hält: „Mir sind die christlichen Werte wichtig.“