„Die Zeit der Konfessionen geht zu Ende“
Interview Mit dem christlichen Gehalt des Osterfestes wissen viele Menschen nichts mehr anzufangen. Auch nicht mehr mit den Kirchen. Die Stuttgarter Stadtdekane Christian Hermes und Søren Schwesig wollen deshalb neue und gemeinsame Angebote machen. Jan Sellner und Michael TrauthigGinge es nach den Stuttgarter Stadtdekanen Søren Schwesig (evangelisch) und Christian Hermes (katholisch), wäre Kirche ein Gemeinschaftsprojekt – weit mehr, als es an der Spitze der Fall ist. In ihrer undogmatischen, pragmatischen Art passen sie die Kirchen von unten an die Lebenswirklichkeit an. Im Interview entwickeln sie den Gedanken einer gemeinsamen Kontaktstelle für Taufen – und betreten damit Neuland.
Herr Schwesig, Herr Hermes, wir sind mitten in der Karwoche. Überall läuft geistliche Musik. Stärkt das die ansonsten stark nachlassende Verbindung der Menschen mit der Kirche?
Schwesig Musik ist zweifellos ein starkes emotionales Moment.
Hermes Die Musik erreicht Stellen im Menschen, zu denen das Wort nicht hinkommt. Das ist ein eigener Zugang. Es gehört ganz wesentlich zu unseren Kirchen, dass wir auch eine Verantwortung für Kunst und Kultur haben. In Stuttgart geben wir weit über eine Million Euro im Jahr für Kirchenmusik aus. Ich bin jetzt schon wieder am Geld sammeln, weil die Orgeln in der Domkirche St. Eberhard dringend gereinigt und vom Stuttgarter Feinstaub befreit werden müssen.
Ostern zeigt für die Christen, dass auch in der tiefsten Krise neues Leben möglich ist. Ein treffendes Bild auch für die stark kriselnden Kirchen?
Schwesig Ostern ist unser zentrales Fest und drückt aus, dass wir unserem Wesen nach eine Hoffnungsgemeinschaft sind. Mit dem Bild der Hoffnungsgemeinschaft gehen wir jetzt auch in die anstehenden, sehr schmerzhaften Transformationsprozesse. Es gibt weniger Gläubige, weniger Geld und weniger Pfarrer. Die evangelische Kirche in Stuttgart wird jede dritte Pfarrerstelle verlieren. Eine erschreckend große Zahl. Da kann man nicht einfach sagen: Wir schaffen das. Wir müssen uns von der gewohnten Form von Kirche verabschieden und sie neu gestalten.
Hermes Auf beide Kirchen kommen harte Zeiten zu, und wir dürfen uns nicht darüber hinwegtäuschen, wie hart das sein wird. Das ist wie Karfreitag, an dem Jesus ans Kreuz genagelt worden ist. Karfreitag ist richtig grausam und nicht nur ein bisschen. Es gibt immer noch viele Gläubige, die in der jetzigen Gestalt von Kirche eine Heimat haben. Denen müssen wir sagen, ihr kriegt keine Pfarrer mehr, und wir können uns nicht mehr so um Euch zu kümmern. Doch wir beide (zeigt auf Schwesig) bleiben glühende Fans der Idee, die im Christentum steckt. Das ist der Gedanke der Auferstehung. Dieser Kern ist unkaputtbar. Das müssen wir weitertragen. Wenn das über Musik oder Spiritualität funktioniert – wunderbar. Diese neuen Wege müssen wir bespielen.
Wie sehen diese Wege aus?
Schwesig Wir sind mit einem Kirchenbild ausgewachsen, das sehr räumlich orientiert ist. Je nachdem, wo wir wohnen, sind wir dieser oder jener Gemeinde zugeordnet. Das funktioniert so nicht mehr, weil die Menschen sich nicht mehr zuordnen lassen. Wir müssen deshalb anders denken und Orte schaffen, die unterschiedliche Lebensgefühle bedienen. Ein Beispiel ist die Gospelkirche im Stuttgarter Osten. Die Gemeinde hat beschlossen, den dort nur dürftig besuchten württembergischen Gottesdienst aufzugeben und stattdessen zu Gospelgottesdienste einzuladen. Jetzt kommen auch Leute aus Reutlingen oder Heilbronn, nicht nur aus der direkten Umgebung. So etwas war in unserer Systematik überhaupt nicht vorgesehen.
Hermes Wir haben große Entwicklungsgebiete in Stuttgart – zum Beispiel das Rosensteinviertel und das Eiermann-Areal –, wo wir als Kirchen gemeinsame Projekte einrichten können. Das gilt auch für die Leonhardsvorstadt. Wir werden in Zukunft überhaupt sehr viel mehr gemeinsam machen müssen – auch im interreligiösen Dialog. Der Stuttgarter Rat der Religionen, in dem 21 Religionsgemeinschaften vertreten sind, kann da sehr hilfreich sein. Gemeinsam gilt es zu überlegen, wie wir in dieser Stadt präsent sein können.
Die Fortschritte bei der Ökumene waren zuletzt überschaubar . . .
Hermes Wir bedauern sehr, dass unser ökumenischer Impuls zum Abendmahl, den wir beide beim katholischen Kirchentag 2022 in Stuttgart gesetzt haben, nicht aufgenommen wurde. Wir sind da keinen Schritt weitergekommen, weil sich führende Kirchenvertreter, die für Ökumene zuständig sind, nicht mit der angemessenen Energie und dem angemessenen Engagement dafür einsetzen – konkret nenne ich Kurienkardinal Kurt Koch. An der Basis passiert das sehr wohl. Die Leute sagen, es ist uns inzwischen egal, wir machen einfach, was wir für richtig halten. Die konfessionellen Unterschiede interessieren viele Menschen gar nicht mehr.
Schwesig Das Zeitalter der Konfessionen geht zu Ende. So nehmen es viele Menschen wahr. Unsere Kirchenleitungen müssen aufpassen, dass sie nicht von der Lebenswirklichkeit überholt werden.
Hermes Das ist in der Tat so! Die Menschen rechnen sich den Kirchen in ihrer abgrenzenden Form nicht mehr zu. Und Abgrenzung ist auch nicht der Auftrag von Kirche. Sie muss integrierend wirken – im Sinne von Hans Küng und seiner „Weltethos“-Idee. Das Problem dieser Gesellschaft ist ja nicht, dass es zu viel Gemeinschaft gibt, sondern zu wenig. Wir müssen unsere Kräfte bündeln und Netzwerke bilden. Es geht nicht mehr darum, welches Etikett auf welchem Haus steht.
Gilt das auch für den Pietismus?
Schwesig Es gibt gerade so viel Bewegung und Dynamik – auch im Pietismus. Dort wird die Frage nach der Beurteilung von Homosexualität neu gestellt. Auch das Liedgut steht zur Diskussion. Viele Lobpreislieder thematisieren nicht die Erfahrung der Gottverlassenheit. Die alleinige Orientierung auf den Lobpreis gibt keine Antwort auf die Fragen junger Leute, die wissen wollen: Wie gehe ich um mit einem Gott, den ich nicht verstehe? Ich höre von einer größeren Offenheit solche Themen in die Lieder aufzunehmen.
Hermes Wir müssen die jungen Erwachsenen insgesamt stärker in den Blick nehmen. Diese Altersgruppe kam bei uns bisher zu kurz, obwohl sie zahlenmäßig mit die größte ist – auch was die Kirchenaustritte betrifft. Darum kümmern wir uns jetzt.
Was können Sie noch tun, um die 90 Prozent der Kirchenmitglieder zu erreichen, die nicht in die Kirche gehen?
Schwesig Vor einigen Jahren hat ein junges Paar bei mir angefragt, sie würden gerne in der Buddha Lounge, einem Restaurant im Stuttgart Süden, heiraten. Ich habe gezögert und vor allem die Hindernisse gesehen. Daraufhin hat sich das Paar nicht mehr gemeldet. Heute frage ich mich: Warum hast du die Lokalität damals nicht angeschaut, eventuell überlegt, während der christlichen Trauung vorhandene buddhistische Symbole zu verhängen? Mir ist im Nachhinein klar geworden: Diese Paar wollte christlich heiraten, fand sich aber in der kirchlichen Vorgabe nicht wieder und konnte an der traditionellen Form der Religionsausübung nicht andocken. Wir versuchen deshalb, gezielt neue Angebote zu machen und auf Wünsche stärker einzugehen – auch wenn es etwa um eine Heirat in einer Sushi-Bar gehen sollte.
Wie ist das bei Taufen?
Schwesig Die grundsätzliche Zustimmung zur Taufe ist weiterhin sehr hoch, aber die Taufzahlen gehen immer weiter zurück. Auch hier machen wir ergänzende Angebote zur traditionellen Taufe in der Kirche – besonders auch für Alleinerziehende. Sie sind die größte Gruppe, die ihre Kinder nicht tauft, vielleicht weil die Betreffenden nicht alleine am Taufstein stehen wollen. Außerdem können sich viele Alleinerziehende eine Tauffeier nicht leisten. Im Juni laden wir zum ersten Mal zu einem großen Tauffest auf den Stuttgarter Fernsehturm. Alle Bewirtungskosten werden von der Kirche übernommen.
Wann wird es ökumenische Taufen geben?
Schwesig Ich könnte mir vorstellen, dass wir gemeinsam eine Kontaktstelle betreiben, wo Interessierte beraten werden, ohne dass da geworben wird: Kommen sie doch zu der einen oder zu der anderen Kirche! Das muss einladend sein nach dem Motto: „Sie interessieren sich für die Taufe? Großartig!“ – und nicht abwehrend, wie es einem heute manchmal begegnet.
Hermes Vielleicht ist das eine in diesem Interview erfundene historische Idee, dass wir das gemeinsam machen. Ich bin dabei. Ich hoffe, es wird nicht wieder infrage gestellt, dass auch theologisch ausgebildete Laien taufen können, wie es das Reformprojekt des Synodalen Weges vorsieht. Es ist hoffentlich auch dem Vatikan klar, dass selbst er (zeigt auf Schwesig) ein Kind katholisch taufen könnte, weil die Taufe im Grundsatz ökumenisch ist. Die Zuordnung zur Religionsgemeinschaft erfolgt erst durch die Eltern. Jeder kann, wenn er die richtige Absicht hat, das Sakrament der Taufe spenden.
Kirche hat über Jahrhunderte Regeln vorgegeben. Davon können sich die Verantwortlichen offenbar schwer trennen?
Schwesig Regeln sind etwas Wichtiges, weil sie Sicherheit geben und Menschen schützen. Sie werden dann aber gefährlich, wenn sie nur noch sklavisch angewandt werden. Ich kann mich hinsichtlich der vorgegebenen Ordnungen über zu wenig Freiheit nicht beschweren. Von meiner Kirchenleitung höre ich: Frag nicht immer erst nach, mach deine Erfahrungen mit neuen Wegen! Auch da ist vieles in Bewegung geraten.
Hermes Ja, ja, die Kirche der Freiheit! (lacht). Aber im Ernst: Kirche ist älter als jeder Staat der Welt und hat mit ihrem Regelwerk ordnend in Kultur und Gesellschaft gewirkt. Und natürlich brauchen Gemeinschaften weiter Regeln, aber das autoritär-monarchische Prinzip wird nicht mehr akzeptiert. Wir stehen da vor einem Paradigmenwechsel. Angst und Schuld, die alten bösen Gifte, die in der Religion drinstecken, müssen weg. Es gibt genügend in dieser Welt, das Angst macht. Religion sollte das nicht. Sie muss eine Kraft sein, die den Menschen die Ängste nimmt.
Am Sonntag feiern wir Ostern – und in der Ukraine tobt immer noch Krieg. Wie bildet sich das in ihren Gemeinden ab? Und wie ist Ihre Position?
Schwesig Es gibt bei uns eine Auseinandersetzung über das Pro und Contra von Waffenlieferungen, und die Stimmen werden lauter, die fragen, was unser Beitrag als Christen zur Konfliktlösung sein kann. Ich finde das Nachdenken darüber wichtig, wie auf kirchlicher Ebene Kontakte nach Russland später wieder aufgenommen werden können – allerdings nicht mit einem Patriarchen Kyrill an der Spitze. In der aktuellen Situation ist Pazifismus für mich keine Option. Wir müssen der Ukraine helfen, sich zu wehren, nachdem alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
Hermes Die ukrainische-byzantinische Kirche gehört zu uns, und wir stehen in engem Kontakt zu Ilya Limberger von der russisch-orthodoxen Gemeinde in Stuttgart. Meine Position ist sehr klar: Nachdem alle anderen Mittel ausgeschöpft sind, hat die Ukraine das Recht, sich zu verteidigen. Und es ist richtig, dies zu unterstützen.
Ist das der Abschied vom Pazifismus?
Schwesig Nein, als mahnenden Zeigefinger brauchen wir ihn auch künftig. In der innenpolitischen Diskussion in Deutschland erleben wir gerade einen Pendelschlag hin zum Militärischen und müssen aufpassen, dass sich hier nichts verselbstständigt.
Hermes Wir Christen müssen jede sich bietende Möglichkeit zum Frieden nutzen. Militarismus darf nicht unsere Sache sein. Der Pazifismus ist aber eine rein individuelle Ethik. Es ist schlicht zynisch, jemand anderem vom bequemen Sofa aus zu sagen: „Du hast Deine Familie verloren, jetzt gib Dein Leben auch noch hin!“ Gleichzeitig ist es notwendig, die zivilgesellschaftlichen Kräfte und die Kräfte des Friedens zu stärken. Und wir sollten uns davor hüten, Menschen aus Russland unter Generalverdacht zu stellen.
Das Gespräch führten Jan Sellner und Michael Trauthig.