„Zögerlichkeit liegt mir nicht“
Kantor Lukas Henke bringt frischen Wind in Heidelbergs Kirchenmusik. Dabei wusste er bis 2021 nicht, wo die Stadt liegt / Von Diana Deutsch
ddEine präzise Vorstellung, wo Heidelberg liegt, hatte Lukas Henke nicht, als er seine Bewerbung abschickte. Der junge Organist wusste nur, dass es hier eine Hochschule für Kirchenmusik gibt und dass an der Johanneskirche ein Stelle als A-Kantor frei war. „Süddeutschland hatte ich vorher überhaupt nicht auf dem Schirm“, gesteht der Kirchenmusiker, der an der Nordsee aufgewachsen ist. Das hat sich inzwischen geändert. Seit eineinhalb Jahren wirbelt Henke wie eine Bö durch „seine“ Johannesgemeinde. Er baut Chöre um, entdeckt neue Spielstätten und sucht immer nach musikalischen Wegen, die noch niemand gegangen ist.
Lukas Henke ist ein Energiebündel – in Kunterbunt. Der 35-Jährige trägt gern Farben, auch in ungewöhnlichen Kombinationen. Er geht offen auf Menschen zu, spricht viel, schnell, mit Händen und Füßen. Und: Er gendert fließend. Ein durch und durch urbaner Mensch. An dieser Stelle muss Henke lachen. Er habe zwar viele Jahre in Hamburg gelebt, sagt der Kirchenmusiker, aber eigentlich stamme er aus einem winzigen Dorf bei Bremervörde. Irgendwo im niedersächsischen Nirgendwo. 50 Kilometer von der Nordsee entfernt. Dort, wo das Land topfeben ist, und die winzigen Dörfer weit verstreut liegen.
„Mein Vater arbeitete als Zimmermann, meine Mutter war Krankenschwester, und meine Schwester hat Möbeltischlerin gelernt.“ Kein musikalisches Gen, nirgends. Und auch kein Klavier in der Ecke. „Wenn ich ehrlich bin“, schmunzelt der Kantor, „muss ich zugeben, dass meine Familie hochgradig unmusikalisch ist.“ Die Bindung an die evangelische Kirche hingegen war bei Henkes stets vorhanden. Allerdings in lutherischer Ausprägung. Sich in der Badischen Landeskirche heimisch zu fühlen, wo die reformierte Vergangenheit noch immer präsent ist, fällt dem Musiker manchmal noch schwer.
Der Grundschullehrer hat die musikalische Begabung des Jungen entdeckt und gefördert. Blockflöte mit sechs, Klavier mit zehn. Mit zwölf Jahren saß er zum ersten Mal an einer Orgel. Es war Liebe auf den ersten Ton. „Meine Premiere als Organist hatte ich beim Vorstellungsgottesdienst zu meiner eigenen Konfirmation.“
Nach dem Abitur übersiedelte Lukas Henke nach Hamburg. „Meine Traumstadt!“ Erst Zivildienst in einer Obdachlosen-Tagesstätte, dann Musikstudium. Henke besitzt einen Master in Kirchenmusik und einen in Chorleitung. Natürlich wäre der Absolvent lieber im Norden geblieben, aber der Heidelberger Ausschreibung konnte Henke nicht widerstehen.
Gesucht wurde ein A-Kantor mit einem kleinen Lehrauftrag an der Hochschule für Kirchenmusik. „Das sind traumhafte Bedingungen, wie man sie nur noch sehr selten findet.“ Die evangelische Kirche muss sparen. Auch in Heidelberg gibt es nur noch drei A-Stellen für Kirchenmusiker, früher waren es doppelt so viele. Bezirkskantor Michael Braatz-Tempel wirkt an der Friedenskirche in Handschuhsheim und Christoph Schäfer an der Heiliggeistkirche. Die dritte und letzte Stelle ergatterte im September 2021 das Nordlicht. „Solch eine Chance muss man ergreifen“, sagt der Kantor. Selbst wenn man nicht so genau weiß, wo Heidelberg eigentlich liegt.
Henkes Start am Neckar fiel mitten in Corona. Aber dadurch hatte der Neuankömmling wenigstens Zeit, sich die Stadt anzusehen. „Dank der Universität hat Heidelberg eine Weltgewandtheit und Diversität, wie man sie sonst nur in Metropolen findet“, lautet das Urteil. Und wenn es dem Kantor doch einmal zu eng wird, setzt er sich in den Zug und fährt nach Paris. „Die Verkehrsanbindung hier ist ein Traum.“
Was man vom Zustand der Kirchenmusik nach Corona nicht sagen konnte. In Neuenheim jedenfalls war kaum etwas davon übrig. Was Henke die Chance für einen echten Neuanfang gab. Er bündelte die vielen kleinen Ensembles zum neuen großen „Johannes-Chor“, der jetzt aus mehr als 70 Sängern besteht. Der kleine, wendige Figuralchor wurde zum Kammerchor mit 30 Sängern aufgestockt. „Das ist ein Schatzkästchen, mit dem man nahezu alles machen kann“, schwärmt Henke. Hinzu kommen drei Kinderchöre. „Wir haben im Moment bei den Chören viel Zulauf aus allen Generationen“, berichtet Henke. „Das ist toll. Damit lässt sich etwas machen.“
Zumal in Neuenheim. „Die Johanneskirche hat eine fantastische Akustik“, schwärmt der Kantor. Und genügend Platz bietet sie auch. Dank der großen Emporen fasst Johannes rund 800 Menschen. Gerade konnte sogar ein neues Chorpodest angeschafft werden, berichtet Henke. Komplett durch Spenden finanziert. „Es füllt den Altarraum aus, ohne den Altar selbst zu überbauen.“ Wenn man zusätzlich die erste Bankreihe entferne, habe hier auch noch ein mittelgroßes Orchester Platz. „Es ist aufwendig und eng. Aber es geht.“
Deutlich mehr Platz bietet der schöne Saal im Evangelischen Gemeindehaus von Neuenheim. Aber was aus dem Jugendstil-Gebäude wird, steht immer noch in den Sternen. Der evangelische Kirchenbezirk jedenfalls kann es nicht länger tragen. Die Stadt habe Interesse an einer Übernahme signalisiert, weiß Henke. Eventuell könnte ein Stadtteilzentrum daraus werden. In diesem Fall würde die evangelische Kirche als Hauptmieterin im Gebäude bleiben und den Saal für Konzerte anmieten.
Für Lukas Henke wäre diese Konstellation der Hauptgewinn. Weil sie ihm die Möglichkeit gibt, zu experimentieren. „Mein Antrieb ist es immer, neue Dinge auszuprobieren“, sagt er. „Zögerlichkeit liegt mir nicht.“ Und wenn mal etwas nicht funktioniert, sei das auch nicht schlimm. „Dann machen wir etwas anderes.“