Pforzheimer Zeitung, 01.04.2023

 

Wieder deutlich mehr Kirchenaustritte

Geld und Missbrauchsskandale Gründe für Abkehr.

Die Inflation lässt die Menschen vielerorts den Gürtel enger schnallen und ihre Ausgaben überdenken. Es scheint, als sehen einige Einsparungen darin, aus der Kirche auszutreten. Wie in BadenWürttemberg, so sind auch in der Goldstadt die Zahlen der Austritte sehr hoch – sowohl bei der Evangelischen als auch bei der Katholischen Kirche. Die Gründe dafür sind laut Christiane Quincke, Dekanin der Evangelischen Kirche Pforzheim, unterschiedlich: „Bei manchen steht der finanzielle Aspekt angesichts der verschiedenen Krisen im Vordergrund. Den Trend, sich nicht langfristig an eine Institution zu binden, zeigt sich aber auch bei Vereinen, Parteien und anderen Institutionen. Anders als früher gehört es nicht mehr einfach dazu, im lokalen Sportverein oder der Kirche Mitglied zu sein“.

„Menschen zur Seite stehen“

Die Zahl der Austritte ist nach der Pandemie wieder deutlich gestiegen. 2021 waren es nur 433, im vergangenen Jahr 560 Menschen, die aus der Evangelischen Kirche ausgetreten sind. Damit steht die Anzahl evangelischer Christen bei 32 309 (Stand 31. Dezember 2022). Bei den Katholiken zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Dort gab es 757 Austritte im Jahr 2021, 2019 waren es noch 625. Dadurch sank die Zahl der Katholiken im Dekanatsverband Pforzheim auf 50 838 in 2021. Zur Statistik des Jahres 2021 erklärte der Freiburger Erzbischof Stephan Burger: „Jeder einzelne Austritt schmerzt mich. Auch wenn wir viele nicht mehr erreichen, so gehört es dennoch für uns als Kirche zu unserem Auftrag, den Menschen gerade in diesen Zeiten globaler Unsicherheit zur Seite zu stehen, sie in ihren existenziellen Nöten und Sehnsüchten zu begleiten.“ Zum Stichtag 31. Dezember 2021 gehörten insgesamt 1,71 Millionen Menschen zur Erzdiözese Freiburg und damit rund die Hälfte der Katholiken in Baden-Württemberg. Im Vorjahr waren es noch 1,76 Millionen.

„Die Bindung an die Institution Kirche ist teilweise schon in zweiter oder dritter Generation nicht mehr da, somit nimmt die Relevanz der Kirche für die eigene Lebensgestaltung in den nachfolgenden Generationen ab. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass Menschen nicht an Gott glauben, aber auch das ist einer der Gründe, den Menschen nennen, die ausgetreten sind“, erklärt Dekanin Quincke. Um mehr Jugendliche für das Thema Kirche zu begeistern, gibt es seit zehn Jahren bei den Evangelischen die Jugendkirche „mylight“. Diese soll laut Christiane Quincke „Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen Raum geben, in dem sie ihren Glauben mit ihren Formen und Ausdrucksweisen leben können.“ Die flächendeckende religiöse Sozialisation, wie sie in Familien früher gelebt wurde, können diese Angebote jedoch nicht ersetzen, so Quincke weiter.

Skandale und Papst bewegen

47 Prozent der Katholiken gaben bei einer Umfrage des Onlinedienstes Statista an, dass für sie der Umgang mit den Missbrauchsfällen ein Grund zum Austritt aus der Kirche sei. Nur die Kirchensteuer (62 Prozent) bewegte noch mehr zum Austritt.

Wie leicht und schnell Gläubige beeinflusst werden, zeigt ein Blick auf die Zahlen rund um die Wahl von Kardinal Ratzinger zum Papst. „Am Anfang seines Pontikats, als getitelt wurde ‚Wir sind Papst‘, gingen die Austrittszahlen tatsächlich zurück“, erklärt Silke Fux, Pressereferentin der Katholischen Kirche Pforzheim. Als Beispiel nennt Fux Statistiken: 2006 verzeichnete die gesamte Erzdiözese Freiburg 6800 Austritte, 2008 rund 10 400. Auf die katholischen Gemeinden in Pforzheim bezogen, gab es 321 Austritte im Jahr 2008 gegenüber 212 im Jahr 2006 und 229 im Jahr 2005, als der Papst gewählt wurde. „Die Popularität des deutschen Papstes schlug sich zunächst sehr positiv nieder und wurde auch genutzt. Allerdings hätten sich viele noch mehr Aufbruch und Veränderung gewünscht“, so die Pressereferentin.

Es gibt jedoch auch Positives zu berichten. „Es war ein Zeichen des Aufbruchs, dass zur Eröffnung der ‚Langen Nacht der Kirchen‘ in Pforzheim über
300 Menschen kamen (die PZ berichtete) und am katholischen Dekanatstag in Pforzheim im letzten Sommer auch viele junge Menschen und Familien teilnahmen und einen modernen, weltoffenen Gottesdienst feierten“, bleibt Fux zuversichtlich.

Für Dekanin Quincke sollten sich Evangelische Christen folgende Frage stellen: Wo ist Kirche für Menschen relevant? „Nur wenn Menschen auf diese Frage eine Antwort bekommen, bleiben sie Mitglied in der Kirche oder engagieren sich in der Kirche.“ Im vergangenen Jahr befragte die Evangelische Kirche deshalb Menschen aus der Goldstadt dazu. Laut Quincke lassen sich Schwerpunkte erkennen: Begleitung von Menschen durch Seelsorge, Beratung oder konkrete Hilfen. Gemeinschaft, Engagement für diejenigen, die in der Gesellschaft keine Stimme haben, ein Ort für Dialog, Wertevermittlung und spirituelles Leben sein. „In diesen Bereichen wollen wir in den nächsten Jahren mit den Menschen, die hier leben, gemeinsam Leben und Glauben gestalten“, so Quincke.