Kirchen auf dem Weg zur Liberalität
Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit Über das Verhältnis zwischen Juden und ChristenVON PATRICK BRAUNS
Konstanz – Vom Raum „Alpenblick“ im fünften Obergeschoss der Volksbank sieht man nicht nur den Säntis und den Bregenzerwald, sondern auch die Türme der Stadt: gegenüber den Kirchturm der Lutherkirche, im Nordosten den Münsterturm und im Südosten das Hochhaus in der Sigismundstraße, in dem bis 2019 die Synagoge war.
An diesem aussichtsreichen Ort war am Sonntagabend die lokale Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit, deren nationale Auftaktveranstaltung am Vormittag in Erfurt stattgefunden hatte – mit der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an die Stiftung Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum. In Konstanz hat dazu wie schon in früheren Jahren die seit 1964 bestehende Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ) eingeladen, zusammen mit der Evangelischen Erwachsenenbildung Bodensee und der Jüdischen Gemeinde Konstanz.
Die Liste der Veranstalter könnte Fragen aufwerfen: Warum ist nur die evangelische Seite vertreten und nicht auch das Katholische Bildungswerk – oder die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK)? Warum ist nur die liberale Jüdische Gemeinde Konstanz dabei und nicht die Synagogengemeinde? Das liegt teilweise auch an personellen Kapazitäten, und der Blick in die erste Reihe relativiert es etwas: Da sitzt auf der einen Seite der Münsterpfarrer Dekan Matthias Trennert-Hellwig und auf der anderen der orthodoxe Rabbiner Avraham Yitzchak Radbil der Synagoge. Dazwischen hat die politische Prominenz Platz genommen: die drei Konstanzer Bundestagsabgeordneten Andreas Jung, Ann-Veruschka Jurisch und Lina Seitzl – die Stadt war durch Gemeinderätin Zahide Sarikas vertreten.
Das bundesweite Jahresthema „Öffnet die Tore der Gerechtigkeit – Freiheit Macht Verantwortung“ sieht auf den ersten Blick nach einem beliebig füllbaren Motto aus. Aber wie André Böhning, der neue Vorsitzende der Gesellschaft, erklärte, ist der erste Teil des Jahresthemas aus Psalm 118, und wenn man das Bild ausführt, bekommen die geöffneten Tore durchaus aktuelle Bezüge: Die „Löcher in Mauern“ lassen an die von beiden Seiten dramatisch verschärfte Lage in Israel denken, mit einer Regierung, die dabei ist, wichtige Prinzipien der liberalen Demokratie aufzugeben.
Das führt zum Thema des Vortrags von Magnus Striet, der als Fundamentaltheologe an der Universität Freiburg lehrt. Wie kommt ein Wissenschaftler aus der theologischen „Grundlagenforschung“ dazu, zum Thema der Verständigung zwischen Christentum und Judentum zu sprechen? Eines seiner Arbeitsgebiete ist das Verhältnis der Kirchen (und anderer Religionsgemeinschaften) zum demokratischen Rechtsstaat und ihre Aufgaben darin. Striets zentrale These ist: Die Kirchen können nur dann ein integrativer Bestandteil der liberalen Demokratie sein, wenn sie selbst eine Kultur der Liberalität, der Selbstbestimmung und der Toleranz pflegen. Das war bei den christlichen Kirchen lange nicht der Fall, sie mussten es sich mühsam erarbeiten – und wenn man sich bestimmte Äußerungen von Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI., anschaut, ist der Prozess noch lange nicht abgeschlossen.
Zur Vorgeschichte gehört die allegorische Gegenüberstellung von Ecclesia und Synagoge, also der gegenüber dem Judentum „überlegenen“ christlichen Kirche. Und die autoritären Strukturen setzten sich im Katholizismus bis in die Nachkriegszeit fort, so sei die deliberative Demokratie, in der Kompromisse ausgehandelt und die eigenen Positionen immer wieder überprüft werden müssen, das Gegenmodell zum „römischen Katholizismus“, wobei es auch in anderen Konfessionen autoritäre und antidemokratische Tendenzen gibt. Und weil es bei der Woche der Brüderlichkeit um das christlich-jüdische Verhältnis geht, wies Striet darauf hin, dass das Judentum ebenso „plural“ ist. Für beide Religionsgemeinschaften gilt, dass sie sich entscheiden müssen, ob sie der liberalen Demokratie zustimmen. Eine nächste Veranstaltung innerhalb der Woche der Brüderlichkeit ist eine Lesung von Ruth Frenk aus ihrem Buch „Bei uns war alles normal“ am Sonntag, 12. März, um 17 Uhr im Überlinger Pfarrhaus am See.
Zur Person
Magnus Striet, Jahrgang 1964, ist Professor für Fundamentaltheologie und Philosophische an der Uni Freiburg. Seit 2011 ist er kooptiertes Mitglied der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg. Im selben Jahr lehnte er Rufe an die Universitäten Münster und Wien ab. Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Anthropologie, Gotteslehre und Eschatologie.