Wie die Stadt mit dem Trauma des Jahres 1623 umgeht
Heidelberg: Vor 400 Jahren entführte Feldherr Tilly im Dreißigjährigen Krieg die wertvollste Bibliothek dieser Zeit aus der Heiliggeistkirche
Von Stephan Alfter
Sie gilt als die Mutter aller Bibliotheken – und zumindest als digitale Ausstellung könnte sie bald an den Ort in Heidelberg zurückkehren, von dem sie vor exakt 400 Jahren entwendet wurde. Erste Planungen dazu wurden am Freitag konkreter erläutert. Das Stuttgarter Atelier Brückner entwickelt dazu ein Konzept.
Die „Bibliotheca Palatina“ war eine der bedeutendsten Büchersammlungen der Reformationszeit. Während des Dreißigjährigen Kriegs wurde sie am 14. Februar 1623 von Feldherr Tilly und seinen Leuten in Heidelberg erbeutet – und anschließend in den Vatikan gebracht. Ein Festakt erinnerte am Freitagabend an das, was vor 400 Jahren geschehen ist. Zwar kehrten im Jahr 1816 Teile der Sammlung in die Universitätsstadt zurück, dass weitere 3000 Schriften, die in Lateinisch, Griechisch und Hebräisch verfasst wurden, wieder an ihrem Ursprungsort auf den Emporen der Heiliggeistkirche stehen werden, gilt heute jedoch als unwahrscheinlich.
Rückkehr eher unwahrscheinlich
Die Entstehung der pfälzischen Bibliothek, wie sie auf Deutsch heißt, lässt sich zurückverfolgen bis ins Jahr 1386. Damals wurde die Universität Heidelberg gegründet. Art und Umfang der „Bibliotheca Palatina“ gelten als einmalig: Nirgendwo in der Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit gibt es Zeugnisse über eine wertvollere Sammlung an Wissen. Sie setzte sich zusammen aus der ehemaligen Schlossbibliothek, Beständen der Universität und der Kurfürsten. Neben theologischen, philologischen, philosophischen und historischen Werken enthält sie auch medizinische, naturkundliche und astronomische Texte.
Feldherr Tilly eroberte mit seinem Heer der Katholischen Liga 1622 die protestantische Kurpfalz und ließ die Kriegsbeute aus Heidelberg 1623 nach Rom bringen. Schon kurz nach dem Raub gab es Restitutionsforderungen. Nach langen Verhandlungen wurden 1816 die 847 deutschsprachigen Handschriften sowie 29 griechische und 16 lateinische Codices an die Heidelberger Universität zurückgegeben, sagte der Direktor der Universitätsbibliothek, Veit Probst, am Freitag vor Journalisten. Fast 3000 Schriften befänden sich jedoch weiterhin im Vatikan. Zwar werde immer mal wieder von einer Rückführung des römischen Bestandes nach Heidelberg gesprochen. Davon halte er jedoch nichts, erklärte Probst. So habe die Unibibliothek etwa nicht die nötigen Sicherheitsvoraussetzungen.
Mittlerweile kann man zumindest virtuell in dem Bücherschatz stöbern. Zwischen 2001 und 2018 digitalisierte die Universitätsbibliothek Heidelberg nicht nur die deutschsprachigen Handschriften in ihrem Bestand, sondern auch die in Rom liegenden lateinischen Codices. Damit sind rund 3000 Handschriften öffentlich online zugänglich. Und das Interesse sei groß, sagte Probst. Die Internetseiten seien im vergangenen Jahr rund 3,3 Millionen Mal aus 183 Ländern aufgerufen worden.
Ausstellung soll Bedeutung zeigen
Den 400. Jahrestag haben Persönlichkeiten aus Landeskirche, der Universität und der Stadt Heidelberg in der Heiliggeistkirche genutzt, um die identitätsstiftende Bedeutung der Sammlung zu betonen. Landesbischöfin Heike Springhart (Karlsruhe) sagte: „Heidelberg trägt sie nicht in den konkreten Büchern, sondern vor allem im Herzen: den reformatorischen Aufbruch, den frischen Geist in alter Tradition, der belebende Umgang mit der Heiligen Schrift.“
Veit Probst beschrieb in seinem Festvortrag die Folgen des Raubs für die Universitätsstadt: „In Heidelberg und in der weiteren Region hinterließ die Wegführung ein Trauma.“ Bereits zu ihrer Heidelberger Blütezeit im 16. und frühen 17. Jahrhundert habe die Bibliothek als Mythos von symbolischer Bedeutung gegolten. Die Bibliothek habe dem gelehrten Europa das über Jahrtausende gesammelte Wissen der Menschheit repräsentiert.
Nicht zuletzt deshalb ist es der Wunsch und das Ziel von Universität, Kirche und der Stadt Heidelberg, die Geschichte und die Bedeutung der Büchersammlung an ihrem Ursprungsort auf den Emporen der Heiliggeistkirche einer breiteren Öffentlichkeit zu übersetzen und mit den digitalen Mitteln des 21. Jahrhunderts sinnlich erfahrbar zu machen. Der Heidelberger Dekan Christof Ellsiepen erläuterte das Vorhaben: „Gemeinsam planen wir ein Ausstellungskonzept, mit dem wir die Palatina für ein breites Publikum multimedial und synästhetisch erlebbar machen. So möchten wir ihre internationale Bedeutung herausarbeiten und die Besucher in die historischen Bücherschätze gleichsam eintauchen lassen“.
Das Stuttgarter Atelier Brückner präsentierte Konzeptideen, wie eine Ausstellung die Inhalte auf zeitgemäße Art und Weise vermittelt werden sollen: multimedial, interaktiv, partizipativ, explorativ, virtuell und flexibel. Untermalt wurde der Festakt durch eine visuelle Kunstprojektion des Heidelberger Medienkünstlers Nils Herbstrieth. (mit epd)