Unter Menschen und im Warmen
Mehr als 400 Essen wurden am ersten Tag der Vesperkirche ausgegeben – Die hohe Besucherzahl macht den Organisatoren Sorgen
Von Volker Endres
Normalerweise würde sich Ralph Hartmann über eine volle Kirche freuen. Bei der Vesperkirche aber, die in diesem Jahr in ihre 26. Auflage geht, ist das nicht der Fall. Im Gegenteil. Die vollbesetzten Tische und Bänke bereiten ihm Sorgen. In der Vesperkirche erhalten Menschen am Existenzminimum Zuwendung und ein warmes Mittagessen. Beides sei in dieser Zeit dringend notwendig, so Hartmann.
„In der Regel wird es erst zur Monatsmitte hin voll oder wenn es draußen richtig kalt wird“, erklärte Pfarrerin Ilka Sobottke. Auch sie sah das bestens gefüllte Kirchenschiff zum Auftakt mit Sorge. Fast 430 Essen, Schweinebäckchen mit Linsengemüse und Kartoffelwürfel, wurden am ersten Tag serviert – ungewöhnlich viele und mit steigender Tendenz in den kommenden Tagen, wenn zum Ende des Geldes noch viel zu viel Monat übrig ist. Und wenn die Temperaturen nicht nur die Menschen von der Straße ins Kirchenschiff treiben, sondern auch all diejenigen, die sich entscheiden müssen zwischen dem Geld für Heizung oder für Nahrungsmittel.
In der Vesperkirche gibt es beides. „Es wäre ungerecht, wenn wir die Kirche zu dieser Veranstaltung nicht heizen würden“, so Sobottke. Schließlich kommen die Menschen schon aus ihren kalten Wohnungen, und noch nie lebten so viele Menschen in Deutschland am Existenzminimum. Es sind Alleinerziehende, Rentner, Witwen, Arbeitslose oder Menschen, die auf der Straße leben. Menschen, die alle in der Vesperkirche willkommen sind. Ganz nach dem Jahresmotto: „Mutwillig Wunder wagen.“ Und ein Wunder sei die Einrichtung tatsächlich, wenn sie auch nur im Kleinen Wunder bewirken könne und für den großen Schritt die Politik zuständig wäre.
Das neue Bürgergeld sei lediglich eine Farce, schimpfte Sobottke in ihrer Predigt zum Auftakt. „Das ist Hartz IV mit neuem Namen. Es gleicht nicht einmal die Inflation aus.“ Dabei wachse gleichzeitig der Reichtum in einem Land so sehr, dass immer mehr Reiche darum bäten, Steuern für ihr Vermögen zahlen zu dürfen. „Wissen Sie, es ist alles schlimm“, erklärte die rund 70-jährige Frau an einem der Tische. Auf den ersten Blick würde man in ihr keine klassische Besucherin vermuten, eher eine der zahlreichen Helferinnen – rund 500 Ehrenamtliche sind in den vier Wochen im Einsatz, servieren den Gästen das Essen oder haben auch einfach nur ein offenes Ohr für die Gäste. Aber nein. „Ich habe nur eine kleine Witwenrente.“
Die reiche nicht hinten und nicht vorne. Noch schlimmer als die erzwungene Knappheit sei jedoch die Einsamkeit in der eigenen, kalten Wohnung. „Ich kann es mir ja nicht leisten, abends irgendwohin zu gehen. Aber hier treffe ich Menschen. Hier kann ich mich mit Menschen unterhalten“, erzählte die Seniorin. Beides Grundbedürfnisse, die gerade in den vergangenen beiden Jahren extrem gelitten hatten. Das unterstrich auch Romina. Sie war der Liebe wegen mit 21 Jahren aus Rumänien nach Mannheim gekommen. 45 Jahre ist das mittlerweile her. Vor zwei Jahren verstarb ihr Mann. Seither fühlt sie sich einsam. „Gerade am Samstag war ich den ganzen Tag allein. Das fällt schwer, das macht etwas mit dem Kopf“, erzählte sie. Deshalb freut sie sich auf die kommenden vier Wochen, in denen sie Gemeinschaft erlebt, in denen sie einfach unter Menschen ist.
Dass das Vesperkirchenklientel nicht immer einfach ist, wurde schon am Montag deutlich. Pfarrerin Anne Ressel reagiert blitzschnell, als sie Teller klirren hörte. Es ist die Erfahrung aus mittlerweile über 25 Jahren. Schon Sekunden später standen sich zwei Streithähne gegenüber. Ob sie eine Auseinandersetzung von der Straße auch ins Kirchenschiff übertragen haben, oder ob es die ungewohnte Enge ist, die beide Egos aufeinanderprallen ließ, blieb ungeklärt. Aber genau so schnell wie der Streit, der sich auf ein paar Beleidigungen beschränkte, entstanden war, wurde er auch schon wieder geschlichtet, waren die beiden Männer, die offensichtlich aus dem Obdachlosenmilieu stammten, getrennt.
Jeder mit einer Tasse Kaffee versehen. Und einem offenen Ohr. Auch das gehört ganz fest zur Vesperkirche. Ein Hausverbot will kaum jemand riskieren. Denn noch drohen kalte Tage und Nächte oder auch das Monatsende. Und die Organisatoren haben reagiert. „Wir haben in diesem Jahr sechs Tische mehr gestellt. Das ist Platz für 36 zusätzliche Gäste“, so Sobottke.