Mannheimer Morgen Stadtausgabe, 05.01.2023

 

Geflüsterte Wünsche

Soziales: Am 8. Januar beginnt die Vesperkirche. Zwei Kunstprojekte aus dem Vorjahr machen sicht- und hörbar, was Menschen bewegt

Von Waltraud Kirsch-Mayer

„Mutwillig Wunder wagen“ – dieses Motto hat sich jene Predigtreihe gegeben, die ab 8. Januar die Vesperkirche jeweils sonntags begleitet. Vier Wochen lang werden in der Citykirche Konkordien (R 2) Bedürftige bewirtet – Labsal für die Seele inbegriffen. Vor einem Jahr, als die 25. Kampagne gegen Armut trotz Corona- Pandemie mit ausgetüfteltem Hygienekonzept lief, gab es zum Jubiläum zwei Kunstinstallationen. Und die machten Sehnsüchte hörbar, Gedanken lichthell. Als Einstimmung auf die Vesperkirche 2023 lauschte der „MM“ den „Flüsterwand“ -Stimmen und studierte das „Lebenszeichen“-Buch.

Sie ist allseits bekannt, die Klagemauer in Jerusalem. Die religiöse Stätte mit unzähligen Zettelbotschaften in Ritzen der Kalksteinblöcke hatte Fritz Stier, Projektkünstler und Vorsitzender des Kunstvereins Viernheim, inspiriert, eine Art Beichtstuhl mit Flüsterwand zu gestalten. Hinter einem Schallschutzvorhang konnten sich Gäste wie Ehrenamtliche von der Seele reden, was sie bewegt. Die berührende Soundsammlung hallt nach: Warum wohl eine Frau aus dem Gedicht von Mascha Kaléko „An meinem Schutzengel“ zitiert, in dem es darum geht, dass auch über einem „Taugenichts“, der „zu spät das Einmaleins der Lebensschule lernte“, Schutz-Schwingen ausgebreitet werden? Was ist aus Jutta geworden, für die der Wunsch ins Mikrofon gesprochen wurde, „dass sie wieder ins Leben zurückkommt“? Und jener, der sich vornahm, „ immer wieder aufzustehen, auch wenn es sehr, sehr schwerfällt“ – hat er es geschafft?

Der Fotograf Alexander Kästel spielt die Flüsterwand-Botschaften in seinem Mannheimer Studio ab. Seit gut einem Jahrzehnt fühlt er sich der Vesperkirche verbunden. „Wahnsinn, was ich in der Zeit über Armut gelernt habe.“ Anfangs fotografierte er nur Dinge – er wollte erst Vertrauen zu den dort einkehrenden Menschen aufbauen, bevor er die Kamera auf sie richtete.

Inzwischen wissen jene Männer und Frauen, die sich in Konkordien an den gedeckten Tisch setzen, dass sie auf seinen (ausgestellten) Ablichtungen nicht als Armutsopfer, Obdachlose oder Heruntergekommene präsentiert werden, sondern als Menschen. Alexander Kästel hat viele Schicksale kennengelernt und die Erfahrung gemacht, dass jene, die so ziemlich alles verloren haben, dies verbergen möchten. Er erzählt von einer Frau, die stets im noch verbliebenen Pelzmantel kam – weil dieser von ihrem früheren Leben kündete.

Sehnsucht nach Frieden

Von dem Fotografen Kästel stammt jener transparente und doch verhüllende Kubus, der vor einem Jahr fast provozierend, gleichwohl einladend im Altarraum prangte – mit einem Buch in der „Herzkammer“. Die Antworten auf vorgegebene Fragen, die aus einem Wort bestehen sollten, erschienen auf den weißen Wänden als lichte „Lebenszeichen“. Geblieben ist das Buch, in dem so manche Kurz-Botschaften mehr sagen als Riesentexte: „Was vermissen Sie am meisten? Umarmungen.“ – „Was wäre das größte Geschenk? Schmerzfreiheit.“ – „Ihr Leben war…? Einsam.“ – „Was wünschen Sie sich von Menschen? Mehr Respekt.“ Des Öfteren reicht ein einziges Wort als Antwort nicht aus. Und deshalb steht unter der Frage, welchen Wunsch eine Fee erfüllen sollte: „Meine Urenkel zum ersten Mal in den Arm nehmen.“

Würde man bei den Flüsterwand-Stimmen wie notierten Lebenszeichen eine Strichliste der genannten Träume und Wünsche führen, käme nach „Liebe“ und „Familie“ die Sehnsucht nach „Frieden“ unangefochten auf Platz eins. Dabei dachte damals niemand an einen Krieg mitten in Europa: Der russische Angriff auf die Ukraine erfolgte 18 Tage nach Ende der letztjährigen Vesperkirche.

Um „HerzensStärke“ geht es am Sonntag, 8. Januar, 10 Uhr, im Eröffnungsgottesdienst, den Pfarrerin Ilka Sobottke hält. Als Gaumen-Leckerei werden zum Auftakt geschmorte Schweinebäckle, Linsengemüse und Kartoffeln serviert – für Vegetarier Erbsensuppe mit Brot. Den Abschlussgottesdienst gestaltet am 5. Februar, 14.15 Uhr, der evangelische Dekan Ralph Hartmann. An zwei Sonntagen, jeweils 17 Uhr, wird die Kirche zum Konzertsaal: „Friends for Vesperkirche“ rocken am 15. Januar, am 22. Januar konzertiert das Kurpfälzische Kammerorchester mit Chor der Hochschule Karlsruhe. Spenden sind willkommen.