Die Weihnachtsvision wird wachgehalten
Trotz des Krieges in der Ukraine setzt die evangelische Landesbischöfin auf Hoffnung – und den Mut zur Ratlosigkeit.VON HEIKE SPRINGHART
„Frieden auf Erden“. Das ist die Weihnachtshoffnung. Die Sehnsucht nach Frieden ist so groß wie die Ratlosigkeit, wie dieser Friede gelingen kann. Ein schnelles Ende des Angriffskriegs gegen die Ukraine ist nicht in Sicht.
Die Debatten bewegen sich im Spannungsfeld zwischen „Nie wieder Krieg!“ und „Nie wieder Faschismus!“. Der Bruch des Völkerrechts und die brutale Missachtung der Menschenrechte durch Russland dürfen keinen Erfolg haben. Die militärische Gewalt jedoch schafft keinen Frieden.
Der Friede, von dem an Weihnachten geredet wird, ist umfassender Friede, die Bibel nennt ihn Shalom: Wohlergehen für alle, das Schweigen der Waffen, Friede auch im Kleinen zwischen Menschen. Auf Erden ist diese Vision immer nur in Teilen Wirklichkeit.
Deswegen brauchen wir in Sachen des Friedens Gottes Kraft der Liebe und die Kraft der Unterscheidung. Als Kirche bezeugen wir die Verheißungen, die weit über das hinausgehen, was in unserer Gestaltungsmacht steht. Wir sind im weiten Horizont der Friedensverheißung der Engel in Bethlehem unterwegs. Mit dieser Friedensverheißung im Ohr gehen wir mutig und demütig Schritte hin zum Frieden. Wir wissen um die Grenzen unserer Möglichkeiten. Auch die verheißungsvollsten Ansätze können scheitern.
Wir brauchen Mut für eine neue Kultur der Ratlosigkeit. Sie eröffnet Räume für einen realistischen Blick auf die Komplexität der Lage und für Nachdenklichkeit statt Polarisierung. Entscheidungen unter politischem Handlungsdruck können nicht frei von Schuld sein. Die Spannung zwischen der Hilfe für die von Gewalt Bedrohten und Betroffenen und dem Festhalten an der Kraft gewaltloser Konfliktlösungen lässt sich nicht auflösen. Es braucht Mut, zu dieser Unauflöslichkeit zu stehen, der Ratlosigkeit Worte zu geben und dabei nach Kräften alles Friedensdienliche zu tun.
Wir müssen die Kräfte stärken, die dem Frieden dienen, die Gewaltlosigkeit wagen und sich auf Schritte der Versöhnung machen. Dabei haben wir es mit unterschiedlichen Gewaltkonstellationen zu tun. Wir stehen als Kirche an der Seite von Opfern von Gewalt. Und: Wir halten am Überschuss der Hoffnung fest. Es geht darum, differenziert und nüchtern hinzusehen, wo himmelschreiende Gewalt geschieht und realistisch zu sehen, wo die Grenzen unserer Verantwortungs- und Machtsphäre liegen. Realismus im theologischen Sinn bedeutet auch, darum zu wissen, dass das, was uns trägt, größer ist als unsere Vernunft, unsere Erkenntnis und unsere Verantwortung.
Es gibt keine direkte Linie von der Vision des umfassenden Friedens zu einem Maßnahmenkatalog. Aber wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um Gesprächskanäle offenzuhalten, denen, die um friedliche Lösungen ringen, den Rücken zu stärken, konkrete humanitäre Hilfe zu leisten, Traumatisierten und Geflüchteten sichere Räume und Zuflucht zu gewähren und so den Boden dafür zu bereiten, dass Wege der Versöhnung entstehen. Damit es eine Zeit nach dem Krieg gibt, in der der Friede eine Chance hat. Damit die Weihnachtsvision wachgehalten und eines Tages wahr wird: Friede auf Erden!
Heike Springhart, 47, ist seit April 2022 Landesbischöfin der Evangelischen Landeskirche in Baden. Sie ist die erste Frau in diesem Amt.
![]() |