Kirchen, die keine mehr sind
Museum, Wohnhaus oder Schwimmbad: Immer wieder werden Kirchen verkauft und umgenutzt – auch in Südbaden. Für Gemeindemitglieder ist das oft schmerzhaft.
Am Tag nach ihrem Umzug besuchte Karin Niemann das erste Mal die Christuskirche in ihrer neuen Heimat Wehr-Öflingen. Der Pfarrer verabschiedete jeden Gottesdienstbesucher einzeln. Zu Niemann sagte er, sie solle doch kurz warten, er wolle mit ihr sprechen. Dann rekrutierte er sie kurzerhand für den Kirchenchor. „Wahrscheinlich war meine Stimme ein bisschen durchdringend, er hat mich singen hören“, erzählt Niemann rückblickend. Das war Anfang der 70er. Heute sagt die 81-Jährige mit dünner Stimme: „Es ist hier alles kaputt gegangen.“
Die evangelische Christuskirche in Wehr-Öflingen wird bald keine mehr sein. Zum 1. Januar kauft die Stadt Wehr das Gebäude. Weil die Kirchen immer weniger Mitglieder und immer weniger Kirchensteuereinnahmen haben, müssen sie ihren Gebäudebestand reduzieren. Das betrifft vor allem Pfarr- und Gemeindehäuser, immer wieder aber auch Kirchen. Was passiert damit und was macht das mit Gemeindemitgliedern, die eine Kirche jahrzehntelang besucht haben?
Karin Niemann, eine kleine Frau, weiße Haare, Brille, steht an einem Vormittag Ende November vor der Christuskirche, vor ihrer Kirche. Ein schmuckloser, cremefarbener 50er-Jahre-Bau mit Satteldach, daneben ein quadratischer Glockenturm mit ockerfarben abgesetzten Rändern. Niemann öffnet die Kirchentür. Sie hat einen Schlüssel, denn sie tauscht das Antependium aus, das Tuch, das vorn am Altar hängt. Im Advent ist es violett. Drinnen holt sie ein Heft aus ihrem Beutel. „Das habe ich mitgebracht“, sagt sie, zieht es aus der leicht vergilbten Schutzfolie und blättert durch. „Da steht alles drin.“ Die ganze Geschichte der Christuskirche, festgehalten auf 32 Seiten.
1951 gründete sich die evangelische Kirchenbau-Vereinigung Öflingen, um eine eigene Kirche im Dorf zu bauen. Anfangs gingen die Mitglieder von Haus zu Haus und sammelten Geld. Von „Bettelaktionen“ ist in der Chronik die Rede. „Das ging mit Pfennigen los“, erzählt Niemann, die die Geschichte selbst nur aus Erzählungen und dem Heftlein kennt. Am Ende brachte die Vereinigung 35.000 D-Mark auf, rund 15 Prozent der Baukosten. Etwa 600 evangelische Bürger lebten im Jahr der Grundsteinlegung, 1956, in Öflingen. Viele Vertriebene aus Ost- und Westpreußen, Pommern und Schlesien. So auch Karin Niemann, deren Familie aus Ostpreußen hatte fliehen müssen.
Fälle wie den der Christuskirche in Wehr-Öflingen gibt es immer wieder, in beiden Konfessionen. 222 katholische Kirchen wurden laut Deutscher Bischofskonferenz bundesweit seit 1900 verkauft. Die Erzdiözese Freiburg hat in den vergangenen 15 Jahren fünf Kirchen verkauft, die evangelische Landeskirche in Baden seit 2011 18 Kirchen. Auch in Südbaden. 2013 die evangelische Erlöserkirche in Menzenschwand, Anfang 2022 die altkatholische Kirche St. Martin in Stühlingen-Schwanau. Jüngst wurde in Freiburg beschlossen, die katholische Kirche St. Josef zu verkaufen.
Es sind Entscheidungen, die sich in den nächsten Jahrzehnten häufen werden, sagt der Theologe Thomas Erne, der bis zu dessen Schließung Direktor des EKD-Instituts für Kirchenbau und kirchliche Kunst in Marburg war. Bis 2060 wird sich die Mitgliederzahl beider christlicher Kirchen in Deutschland halbieren auf rund 21 Millionen Mitglieder. „Wenn die Hälfte der Mitglieder weg ist, wird auch ein Großteil der Einkünfte einbrechen. Das wissen beide Kirchen“, sagt Erne. Daher soll der Gebäudebestand um rund 30 Prozent reduziert werden. Und das lässt sich nicht allein mit dem Verkauf von Pfarrhäusern erreichen. „Es geht an sehr schwierige Entscheidungen in den nächsten 30 Jahren.“
Bevor eine Kirche verkauft wird, muss sie profaniert oder entwidmet werden – je nach Konfession. Katholische Kirchen sind sakrale Stätten. Ihre Entweihung findet in einer letzten heiligen Messe statt. Danach ist der Kirchenraum kein geheiligter mehr, sondern ein gewöhnlicher, er ist profan. In evangelischen Kirchen wird nicht zwischen geweihten und profanen Räumen unterschieden, daher werden evangelische Kirchen entwidmet, ebenfalls mit einem Gottesdienst.
Wie Karin Niemann besucht auch Rosel Gerstenberg regelmäßig die Christuskirche. Sie kommt etwas später, greift am Eingang zwei Sitzkissen für die kühle Kirchenbank und setzt sich zu Niemann in die erste Reihe. Gerstenberg erinnert sich an den Tag vor 42 Jahren, als ihr Mann vom ersten Gottesdienst nach dem Umzug nach Öflingen zurückkam. Sie war bei den Kindern geblieben, er hatte den Pfarrer zum Essen eingeladen. „’Hast du sie nicht alle?’, habe ich ihn gefragt. Wir waren ja gerade erst eingezogen und hatten noch keine Küche. Es war ein großes Chaos“, erzählt sie. Doch der Pfarrer kam, es gab Pellkartoffeln mit Hering.
Für die 72-Jährige ist die Kirche seitdem ein Zuhause geworden. „Man ist sehr verbunden mit dem Gebäude durch die erlebte Geselligkeit. Hier gehörte man dazu.“ Kirchenchor, Bibelkreis, offener Abend. Dass es das alles nicht mehr gibt, sei schon hart genug. Gerstenberg, ein fröhlicher Mensch, der viel lacht, wird ernst, wenn sie über die Entwicklung der Kirche spricht. Wenn kein Pfarrer da ist, wird die Gemeinde nicht gepflegt. Dann wird die Gemeinde kleiner und ein neuer Pfarrer lohnt sich nicht mehr. Ein Teufelskreis. „Es ist ganz schwierig für mich, hier Abschied zu nehmen“, sagt Gerstenberg und hält mit der linken Hand die rechte fest.
Eine Kirche unfreiwillig zu verlassen, weil sie verkauft wird, sei für Gemeindemitglieder eine sehr emotionale Sache, sagt Thomas Erne. „Das kann man vergleichen mit dem Tod eines nahen Angehörigen.“ Erst höre man, die Kirche sei unheilbar krank, man wolle es nicht wahrhaben, verdränge es. Dann werde es konkreter, man werde sich bewusst, man könne dem nicht ausweichen. „Das ist ein schmerzhafter Prozess. Ein vitaler Teil meines Lebens wird genommen“, sagt Erne. Die Kirche stehe für das darin Erlebte. „Selbst Kirchen, die nicht besonders attraktiv sind, sind mit Erinnerungen gefüllt.“
Erinnerungen wie die an ihre Goldene Hochzeit bei Niemann. Oder an die Taufe der Enkelkinder von Gerstenberg. Die 72-Jährige hat Verständnis dafür, dass die Kirche einige Gebäude nicht halten kann. Bald wären für die Christuskirche knapp eine halbe Million Euro an Sanierungskosten angefallen. „Die Vorgaben sind nachvollziehbar. Man kann nicht Tausende Euro in ein Gemäuer stecken, was dann nicht mehr genutzt wird“, sagt sie. Und doch ist da eine diffuse Wut, sind da Trauer und Hilflosigkeit. Weil immer weniger Menschen in die Kirche kommen, weil das Gemeindeleben einschläft, weil ihre Kirche keine mehr sein wird.
Sich von Kirchen zu trennen, ist heikel. Nicht nur, weil ein Stück Vergangenheit verschwindet. Ebenso stellt sich die Frage nach der Zukunft. Dass die Stadt die Christuskirche kauft, sei das einzig Gute, sagt Niemann. So werde sie wenigstens nicht abgerissen. Ein Abriss ist wegen des Denkmalschutzes sowieso oft nicht möglich. Von den 24.000 katholischen Kirchen stehen 22.800 unter Denkmalschutz. Die evangelische Kirche besitzt über 20.000 Kirchen, davon sind 17.000 denkmalgeschützt. Sie zu erhalten ist besonders kostspielig. Einen passenden Käufer zu finden, ist meist ebenso schwierig, denn die Kirche laufe Gefahr, einen Imageschaden zu erleiden, sagt Thomas Erne. Was, wenn ein Waffenhändler einzieht, oder, noch schlimmer, ein Bordell? Der Symbolwert der Kirchen sei es, der ihren tatsächlichen Wert ausmache. Dieser ideelle Wert werde durch die Gesellschaft erzeugt, sie schreibe ihn den Bauten zu. „Die Kirche erzählt qua Gebäudetypus eine Geschichte.“
Beispiele für Umnutzungen gibt es einige. In Maastricht und Antwerpen wurden Kirchen zu Buchhandlungen. Eine Kirche in Bielefeld wurde zu einem Restaurant, eine in Münster zu einer Schulturnhalle. Im südenglischen Woodford ist heute ein Schwimmbad in einer ehemaligen Kirche. In die katholische Kirche St. Elisabeth in Freiburg-Zähringen wurden 2015 42 Wohnungen eingebaut. Durch die alten Kirchenfenster fällt heute Licht ins Treppenhaus.
Eine andere mit neuem Leben gefüllte ehemalige Kirche, ist die in Menzenschwand. Von außen sieht die alte Dorfkirche noch aus wie eine Kirche. Strahlend weiß, ein kleines Zwiebeltürmchen. Sie gehört dem Winterhalter-Verein, der das Werk der Maler Franz-Xaver und Hermann Winterhalter aus Menzenschwand in seinem Museum im Rathaus bewahrt. Elisabeth Kaiser, 63, leicht graue Haare, ist die Vorsitzende. „So war sie ursprünglich“, sagt sie und zeigt auf die Fassade des 1688 erbauten Gebäudes. Nachdem der Verein die Kirche 2017 gekauft hat, wurde sie nach den Vorgaben des Denkmalschutzes verputzt – originalgetreu. Kaiser kennt sich aus, weiß genau, was original ist, und was nicht. Die Deckenverkleidung? Nicht original. Die Fresken an den Wänden? Nicht original. Außer den ganz verblichenen im Altarraum, die sind echt.
Die alte Dorfkirche hieß bis 2013 Erlöserkirche. Die evangelische Gemeinde hatte sie 1974 von den Katholiken gekauft und renoviert. Die Decke neu verkleidet, die Wände frisch gestrichen. Vor zehn Jahren kaufte sie ein Investor, weil sie kaum mehr genutzt wurde. Bis 2017 passierte nichts. Dann kaufte der Winterhalter-Verein die Kirche, wollte dort sein Museum unterbringen, weil es im Rathaus zu eng wurde. Die Pläne liegen nun auf Eis. Das Geld für einen Umbau fehlt.
Jetzt finden hier Veranstaltungen statt. 60 Stühle sind mit Blickrichtung Altarraum aufgebaut. An den Seiten stehen je vier alte Kirchenbänke. Der Boden ist mit einem weinroten Teppich bedeckt – nicht original. Im Altarraum ein alter Tisch, eine Lampe und ein Stuhl. Links ein Klavier. Dahinter ist ein großes Laken gespannt, damit es nicht so hallt, sagt Kaiser. In der Rückwand stecken noch die Verankerungen, an denen das Kreuz hing.
Mit den Eintrittsgeldern finanziert der Verein die Kirche. „Wir haben Ideen, was man hier machen kann“, sagt Kaiser. Ausstellungen, Konzerte, Lesungen. Auch private Feiern. Ein „Tatort“ wurde gedreht. „Wem gehört schon eine Kirche? Wir finden das toll“, schwärmt Kaiser bei sechs Grad im Innern. Sonst gebe es im Ort keinen Veranstaltungsraum. Und die alte Dorfkirche bleibe erhalten.
Erhalten bleibt auch die Christuskirche in Wehr-Öflingen. Kulturveranstaltungen und Volkshochschulkurse soll es dort geben. Mitte Dezember wurde sie entwidmet. Zwei Jahre dürfen die Öflinger übergangsweise noch Gottesdienst in ihrer Kirche feiern. Dann müssen sie in die Friedenskirche nach Wehr. Statt ein paar Gehminuten ein paar Autominuten. Karin Niemann war schon dort. Es ist nicht das Gleiche. „Ich mache die Augen zu in der Kirche.“ Dann komme sie da hin, wo sie hinwolle. In die Christuskirche.
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