Rhein-Neckar-Zeitung - Sinsheimer Nachrichten - Bad Rappenauer Bote/Eppinger Nachrichten, 19.12.2022

 

„Wer in den Randbereichen war, feiert anders“

Evangelische Kirche will mit „Wärmewinter“ ein Angebot gegen Einsamkeit schaffen – Gottesdienste in Krankenhaus und Heimen

Von Tim Kegel

Sinsheim. Deutliche Worte – die seitens der Kirche noch vor wenigen Jahren nicht gefallen wären: Um „Wärme in einer kalten Gesellschaft“ geht es der evangelischen Kirche bei ihren Beiträgen, die unter dem Begriff „Wärmewinter“ subsumiert werden. Mit Aktivitäten, die sowohl einer Spaltung und einem Gefühl von Vereinsamung entgegenwirken, aber angesichts tiefer Temperaturen, hoher Kosten und kalter Zimmer auch faktisch Wärme schaffen wollen.

Wer hat die Kaffee- und Espressomaschine in der Stadtkirche bemerkt; die bereitliegenden Plätzchen und die Mandarinen? Die Kirche mitten im Zentrum, die sowieso Offenheit pflegt, immer wieder Musik am Wochenmarkt-Samstag anbietet oder etwas Ruhe in der neu und in warmen Farben sanierten Kapelle – in der Weihnachtszeit gibt es nun einen zusätzlichen Ort für Begegnung. Ähnliches wird auch in Eppingen gemacht, und ähnlich „niederschwellig“, wie Dekanin Christiane Glöckner-Lang sagt: mit Mittagstischen zur Adventszeit oder einer Adventsscheune auf dem Gartenschau-Areal; ein Folgeformat würde sich anbieten. „Es gibt viele Leute, die Gemeinschaft suchen“, sei bei beiden Angeboten zu beobachten.

Da stellt sich die Frage, ob es nicht – mit Ausnahmen in den vergangenen 24 Monaten – ohnehin ziemlich „warm“ zuging. Seit Jahren gibt es das Angebot „Weihnachten für alle“ am 24. Dezember im SAM-Café auf dem Sinsheimer Burgplatz (siehe Meldung links), das Menschen – Einheimischen und Migranten –, die an diesem Tag einsam sind, neben einer warmen Suppe auch „ein interreligiöses Kasperletheater“ bietet. Helfer in großer Zahl arbeiten auf diesen Abend hin.

Seit mehr als 20 Jahren schafft man es in Sinsheim außerdem, Weihnachtsgottesdienste am Krankenhaus zu halten, und in der Kreispflege – heute unverbindlicher GRN-Betreuungszentrum genannt. Und zwar nicht vor, nicht nach, sondern an Heiligabend. Als man in Sinsheim damit anfing, war das in Baden und darüber hinaus ziemlich einzigartig. Auch dieses Jahr gibt es im Krankenhaus Gottesdienste an Weihnachten auf allen Stationen – von der Inneren über die Gynäkologie, Akutgeriatrie und Reha bis zur Palliativstation – sowie im Betreuungszentrum. Insgesamt sind dann elf Pfarrer, Pfarrer-Ruheständler, Prädikantinnen und die Dekanin in den Einrichtungen unterwegs; aus Dühren und Meckesheim, aus Epfenbach, Gemmingen und Bad Rappenau; und im Alter von Anfang 30 bis Ende 80. Und sei in den späten 1990er-Jahren noch hauptsächlich das Pflegepersonal im Weihnachtsdienst gewesen, welches keine besondere Beziehung zu dem Fest hat, so gebe es seit Jahren „fast schon einen Überhang an Leuten, die mitmachen wollen“.

Eine besondere Stimmung dieser Gottesdienste beschreiben sie alle: Wer an Weihnachten im Krankenhaus ist, ist schwer- oder todkrank, fern der eigenen Heimat oder in einer anderen Ausnahmesituation. Manche Patienten nehmen im Krankenbett, das in den Raum geschoben wird, an der gemeinsamen Feier teil oder mit Infusionsschlauch; viele genießen das Beisein der Familie, auf deren Anwesenheit man durchaus hinwirke.

„Wir sind in Deutschland für ein Weihnachtsfest verantwortlich, das in seiner Intensität das Gleiche sucht“, sagt Dietmar Coors, Dührener Pfarrer im Ruhestand und seit vielen Jahren am Krankenhaus und im Betreuungszentrum aktiv. Solche Gottesdienste, die meist am Nachmittag und frühen Abend stattfinden, hätten dann auch Auswirkungen auf die späteren, festlichen Heiligabendgottesdienste und Christmetten in den Kirchengemeinden vor Hunderten und auf das Weihnachten „in der warmen Stube“, glaub Coors: „Wenn man in den Randbereichen war, feiert man anders.“

Groß war speziell dort dann auch der Kontrast, als man dieses Feiern verboten hatte. Nicht wenige Alte ahnten, es könnte ihr letztes Weihnachten sein. Dennoch verbrachten sie es alleine, als selbst kleinen Kindern der Eindruck vermittelt wurde, eine tödliche Gefahr für ihre Großeltern dazustellen, wenn sie diese mit dem respiratorischen Virus ansteckten. Glöckner-Lang und ihren Kollegen Hendrik Fränkle und Dietmar Coors gelang es im vergangenen Jahr trotzdem, Weihnachtsgottesdienste im Katharinenstift, im Seniorenzentrum des Arbeiter-Samariter-Bunds und im Angelbachtaler Sonnenhof zu halten.

Unter hohen Auflagen, schildert Glöckner-Lang: In ihrem Fall besuchte sie die sieben Stationen des Altenheims nach und nach, weil sich die Bewohner „nicht vermischen durften“. Viele Tote – in nahezu allen Fällen vielfach vorerkrankt – gab es dennoch in allen Heimen zu betrauern. Und vielen von ihnen und deren Angehörigen blieb ein Abschiednehmen auf menschliche Weise oft verwehrt: „Leute alleine sterben zu lassen – das geht nicht“, findet Glöckner-Lang. Doch weil genau das in der Zeit der staatlich verordneten Corona-Maßnahmen passiert war, weil ausgeblendet worden sei, dass Menschen „körperlich, aber auch an der Seele krank werden“. Deshalb fragt sich die Dekanin, ob sich die Kirche in der Corona-Zeit – trotz offen bleibender Kirchen und obgleich ungeimpfte Personen in der Regel nicht aus Gottesdiensten ausgeschlossen wurden – sich speziell in diesem wichtigen Punkt „noch zu wenig aufgelehnt hat“.