Rhein-Neckar-Zeitung - Heidelberger Nachrichten, 19.12.2022

 

„Gelegenheit für Wunder bieten“

Vesperkirche beginnt am 8. Januar – Bedürftige erhalten eine warme Mahlzeit, Beratung und Zuwendung

Von Volker Endres

Eine Frau, die sich mit Tränen in den Augen für ein paar Lego-Bausteine für ihre zweijährige Tochter bedankt, ein ehemaliger Rettungssanitäter, dem nach 40 Dienstjahren von seiner Rente nach Abzug aller Fixkosten nur noch 200 Euro zum Leben bleiben oder eine verwitwete Frau, die in ihrer Wohnung vor der Frage steht, ob sie das knappe Geld für die Heizung oder für Nahrung ausgibt – Armut hat viele Ausprägungen. Die Vesperkirche macht sie seit 25 Jahren sichtbar.

Mit geschmorten Schweinebäckchen, Linsengemüse und Kartoffelwürfeln beginnt am 8. Januar die 26. Auflage der Hilfsaktion der evangelischen Kirche in der Citykirche Konkordien im Quadrat R 2. Als Aufruf gedacht, in einem reichen Land die Probleme Obdachlosigkeit und Armut anzugehen, sind die Probleme seither nicht kleiner geworden. Im Gegenteil: „Wir beobachten bei unseren Hilfsangeboten, dass die Anfrage ständig steigt“, erklärt Diakonie-Direktor Michael Graf.

Egal ob Kinderkaufhaus, Diakoniepunkt oder eben die Vesperkirche – „überall kommen mittlerweile Menschen, die wir bislang nicht zu unserem Kundenkreis gezählt haben“. Jetzt sei es schon die untere Mittelschicht, der nach Pandemie, Ukraine-Krise, Energieknappheit und Inflation das Geld aus der Vollzeitbeschäftigung nicht mehr zum Leben ausreicht. „Es ist nicht unser Anspruch, Baustein der Grundversorgung in Mannheim zu sein“, stellt Pfarrerin Anne Ressel klar, „aber wir können mit der Vesperkirche zumindest für kurze Zeit eine Lücke in der Grundversorgung abmildern.“

Rund 500 Essen werden bei der Vesperkirche seit 2012 durchschnittlich pro Tag serviert – Tendenz steigend. Die Gäste werden gebeten, sich mit vier Euro an den Essenskosten zu beteiligen. Sollten sie das nicht schaffen, wird um einen Euro gebeten und wer auch das nicht leisten kann, erhält die Mahlzeit gratis. Getragen werden die rund 150 000 Euro für die Vesperkirche ausschließlich durch Spenden. Der Topf sei vor dem Start zwar gut gefüllt, in Frage steht aber, ob die Summe der Vorjahre auch diesmal ausreichen wird: „Wir rechnen mit bis zu zehn Prozent mehr“, erklärt die Pfarrerin. Immerhin sei es undenkbar, die Gäste in einer unbeheizten Kirche willkommen zu heißen. Das Angebot geht weit über ein warmes Mittagessen hinaus. So wird erstmals seit 2020 im Kirchenschiff auch wieder warme Kleidung ausgegeben. Mützen, Schals und Handschuhe sind als Spende immer willkommen.

Darüber hinaus gibt es Beratungsangebote für Menschen ohne festen Wohnsitz sowie für Gäste mit psychosozialen Problemen. Drei Mal in der Woche gibt es auch eine medizinische Versorgung. „Wir schaffen einen Ort, an dem alle Menschen willkommen sind“, so Pfarrerin Ressel. Stadtdekan Ralph Hartmann geht noch darüber hinaus: „Wir können zwar keine Wunder planen, aber wir können eine Gelegenheit für Wunder bieten. Die Vesperkirche bietet die Plattform für kleine Wunder“.

Man biete im Kirchenschiff die Möglichkeit für Begegnungen. „Und wir sind dankbar für die Ehrenamtlichen, die uns ihre Zeit schenken.“ Bis zu 60 Männer, Frauen und Jugendliche sind es, die Essen ausgeben, Kaffee ausschenken, Geschirr reinigen, und allesamt einfach für Gespräche mit den Gästen offen sind. Diese bekommen die Mahlzeiten am Tisch serviert – seit 25 Jahren wichtiger Bestandteil des Konzepts. „Wir sind froh, dass wir endlich wieder zusammenkommen können“, betont Ressel. Denn gerade die Distanz durch die Pandemie habe Menschen in prekärer Situation noch stärker in die Vereinsamung getrieben. Dafür habe man den Kirchenbau neu bestuhlt, biete mittlerweile rund 250 Sitzplätze an den Esstischen, um mit der zu erwartenden größeren Nachfrage schritt- halten zu können.

Begleitet wird die Vesperkirche diesmal wieder von einem geistlichen Angebot, jeder Tag endet mit einer Andacht. An den Sonntagen bis zum 5. Februar stehen die Gottesdienste außerdem jeweils unter dem Schwerpunkt „Mutwillig Wunder wagen“. Benefizkonzerte am 15. Januar von den „Friends for Vesperkirche“ aus der Jazz-, Pop- und Rockszene sowie am 22. Januar mit dem Kurpfälzischen Kammerorchester runden das Angebot ab und sollen Spenden für das Programm einbringen.

Denn bei knapperen Ressourcen beginnen Entsolidarisierung und Verteilungskämpfe. „Wir schaffen einen Raum, in dem es genug für alle gibt“, so Dekan Hartmann. Deshalb dürfe die Vesperkirche gerade in Zeiten von Knappheit nicht fehlen.