Mannheimer Morgen Stadtausgabe, 16.12.2022

 

„Gelegenheit, kleine Wunder zu erleben“

Soziales: Am 8. Januar startet mitten in der Stadt die 26. Vesperkirche. Sie bietet vier Wochen lang ein warmes Mittagessen, Gemeinschaft und Beratung

Von Bertram Bähr

„Wunder kann man nicht planen“, weiß Ralph Hartmann, Dekan der Evangelischen Kirche in Mannheim. Aber „man kann die Gelegenheit bieten, dass wir kleine Wunder erleben“. Wenn zum Beispiel „Menschen in den Mittelpunkt geraten, die sonst am Rande stehen“. Wenn sich Personen mit ganz unterschiedlichen Biografien „begegnen, die sich sonst nicht begegnen würden“. Oder wenn sich Hunderte von Ehrenamtlichen finden, um den Ärmsten der Armen zur Seite zu stehen.

Gelegenheit, solche Wunder zu erleben, bietet die Vesperkirche in der Citykirche Konkordien in R 2 – und das seit fast drei Jahrzehnten. Zum 26. Mal startet das großangelegte Projekt mitten in der Stadt am 8. Januar 2023 – unter dem Motto „mutwillig Wunder wagen“. Geöffnet ist die Kirche bis 5. Februar täglich 11 bis 15 Uhr. Es gibt ein warmes Mittagessen für jeweils mehr als 500 Personen. Versorgt werden sie von rund 520 Ehrenamtlichen, darunter ganze Familien- und Freundeskreise, mehrere Konfi-Gruppen und drei Schulen (Keplerschule, Liselotte- und Lessing-Gymnasium). Umfangreiche Beratungsangebote und eine mobile Arztpraxis sind fester Bestandteil des Projekts.

Blick auf Einzelschicksale

Getragen wird es von Evangelischer Kirche und Diakonischem Werk. Dekan Ralph Hartmann, Pfarrerin Anne Ressel und Michael Graf, Direktor des Diakonischen Werks, stellten am Donnerstag nicht nur die Details vor. Sie gingen vor allem darauf ein, warum die Vesperkirche mehr denn je nötig ist.

„Die Energiekrise verschlimmert die Lage der Ärmsten noch einmal mehr“, beschreibt Hartmann die derzeitige Situation. Die Vesperkirche solle ein Raum sein, „in dem alle genug haben“, in dem sie sich satt essen, aufwärmen, Lebenshilfe bekommen können. Angesichts der finanziellen Lage „steigt die Nachfrage fulminant“, berichtet Michael Graf. Das sei schon jetzt beim Diakoniepunkt oder im Kinderkaufhaus deutlich zu sehen. Es kämen „Menschen, die wir bisher nicht zu unserem Kundenkreis gezählt haben, aus der unteren Mittelschicht“.

Exemplarisch geht Graf auf Einzelschicksale ein. Wie das der älteren Frau, alleinstehend, in einem alten Haus mit Ölheizung lebend. Der Öltank leer, und „es stellt sich die Frage, wenn sie Geld hätte, was würde sie tun? Essen kaufen oder Heizöl? Für beides reicht es nicht.“ Solche Fälle werde es in Zukunft häufig geben, befürchtet Graf.

Ein weiteres Beispiel: ein 72-Jähriger, der Grundsicherung bezieht. „Wenn die Kosten für Miete, Nebenkosten Heizung, Strom und Telefon bezahlt sind, bleiben ihm am Ende etwa 200 Euro monatlich“, berichtet Graf – für Lebensmittel, Medikamente oder Kleidung. „Der Rentner hat 40 Jahre lang als Rettungssanitäter gearbeitet. War nie arbeitslos. Trotzdem reicht seine Rente heute nicht zum Überleben. Rücklagen konnte er auch nie bilden“, beschreibt der Direktor des Diakonischen Werks. Der Betroffene komme zum Diakoniepunkt, um vergünstigte Lebensmittel zu erhalten – wofür er sich aber schäme. Die Vesperkirche sei „für ihn ein Segen, wie er selbst sagt, hier ist er nicht alleine und kann sich mit anderen Menschen austauschen“.

Fonds für Energienothilfe

Und wo Betroffenen, die sonst nichts davon erfahren würden, Beratungsangebote gemacht werden können. Hier erfahren sie zum Beispiel, von welchen Stellen sie weitere finanzielle Unterstützung erhalten. Oder was es mit dem von der Evangelischen Kirche Baden neu aufgelegten Energienothilfefonds auf sich hat. Er richtet sich an Menschen mit niedrigem oder mittlerem Einkommen, die nicht von staatlichen Transferleistungen profitieren. Im Einzelfall können bis zu tausend Euro zur Verfügung gestellt werden, um akute Notlagen zu überbrücken.

Pfarrerin Anne Ressel freut sich besonders darüber, dass nach zwei Corona-Jahren wieder mehr Normalität einkehrt. Statt Essen „to go“ auszuhändigen oder die Gäste an weit auseinanderliegenden Tischen zu platzieren, stehen das „Zusammenkommen“ und der gemeinsame Austausch wieder im Mittelpunkt. Klares Ziel: Die Distanz zu Menschen, die prekär leben, verringern.

Erstmals biete man neben Fleischgerichten auch vegetarisches Essen an. Die Organisatoren reagierten damit auf „verstärkte Anfragen in den vergangenen Jahren“, so die Pfarrerin der Citykirche. Sie geht auch auf kritische Stimmen ein, die einen zu hohen Fleischverbrauch moniert hätten – und hält dem entgegen: „Die Menschen, die bei uns zu Gast sind, sind ganz gewiss nicht die, die durch ihren Überkonsum unsere Erde schädigen.“