Fürchten Sie leere Kirchen zum Fest?
Auf Weihnachten blicken Geistliche mit Zuversicht Zur Aufarbeitung der Missbräuche „genug getan“ Pfarrer Walter: Austritte wie Tsunami-Bewegung Von Cian HartungÜberlingen – Den Optimismus hat sie trotz allem nicht verloren. „Ich glaube, es wird voll an Weihnachten!“, sagt Regine Klusmann, Dekanin des evangelischen Kirchenbezirks Überlingen-Stockach. „Die Menschen freuen sich nämlich darauf, sich nach Corona nicht mehr für die Messe anmelden zu müssen.“ Angst vor leeren Kirchenbänken? Nein, das gibt es auch nicht bei Bernd Walter, Pfarrer der katholischen Seelsorgeeinheit Überlingen. „Weihnachten ist das einzige Fest, wo wir keine großen Bedenken haben.“ Es bleibe Verlass auf die Heilige Messe – auch in Zeiten von Rekordzahlen bei Kirchenaustritten.
Wenn Pfarrer Bernd Walter an die Austritte der Katholiken denkt, spricht er von einer „Tsunami-Bewegung“. Die Bindekraft zur Kirche habe nachgelassen, der Austritt sei mittlerweile „salonfähig“. Zwar bekämen die Leute nach dem Termin beim Standesamt eine Einladung, um mit ihm über ihre Gründe zu sprechen. „Oft wird das nicht angenommen.“ Walter ist sich aber sicher: In der traditionsverbundenen Stadt Überlingen könne er gerade an Ostern und Pfingsten oder bei symbolträchtigen Festen immer noch viele Menschen erreichen. „Beim Patrozinium Anfang Dezember waren so viele Kinder und Familien da“, sagt der Münsterpfarrer. „Es gibt schon noch eine Sehnsucht nach der heilen Welt!“
Kirche gibt Halt in Krisenzeiten
Dass die evangelische Kirche im Leben der Überlinger noch eine Rolle spielt, bejaht auch Dekanin Klusmann. „Wir stehen für Identifikation in einer Zeit, wo vieles auseinanderbricht“, sagt sie. „Wir vermitteln etwas Positives und sind ein mächtiges Gegenbild gegen die allgemeine Resignation in Krisenzeiten.“ Um der Austrittswelle vor Ort entgegenzutreten, helfen vor allem persönliche Kontakte und Präsenz bei Feierlichkeiten, sagen beide. „Wenn ich jemand aus der Kirche vor Ort kenne, ist das was ganz anderes, als wenn ich die Institution nur aus den Medien kenne“, sagt Walter.
Im vergangenen Jahrzehnt dominierte rund um die Kirchen das Thema Missbrauch die Schlagzeilen. Pfarrer Walter sieht die katholische Kirche nach mehr als zehn Jahren mit diesem „unsäglichen Thema“, wie er es ausdrückt, auf einem guten Weg. Missbrauch gebe es in allen Institutionen und an allen Orten. Mittlerweile sei genug getan worden für die Aufarbeitung. „Daraus ist ja auch der Synodale Weg entstanden“, betont er.
Wer in der katholischen Kirche arbeite, müsse mittlerweile ein Führungszeugnis abgeben und eine Schulung machen. Mit Argusaugen werde inzwischen auf Ehrenamtliche und Mitarbeiter geguckt, selbst auf ihn, sagt er. Das Thema Missbrauchsfälle und ihre Aufarbeitung sei sehr wichtig, möchte er betonen. „Ich will die katholische Kirche aber nicht darauf reduzieren lassen.“ Missbrauchsfälle gab es in der Vergangenheit auch in der evangelischen Kirche. Dekanin Klusmann sagt: „Es ist gut, dass es aufgearbeitet wird.“ Das zeige aber, dass die Kirche von Menschen getragen werde und diese nicht perfekt seien. „Ich will keinen entschuldigen, aber es gibt bei uns auch so wie bei Fußballvereinen, Schulen oder im Dorf solche Vorfälle.“ Als evangelische Kirche habe man aber den Anspruch, menschenwürdig miteinander umzugehen. Man dürfe Missbrauchsfälle auf gar keinen Fall verschweigen oder unter den Teppich kehren. „Wir können nur mit Vergebung daraus lernen.“
Beide Kirchengemeinden wollen künftig noch mehr in Form der Ökumene zusammenarbeiten. Und bei den Gemeindemitgliedern heißt es nun „Qualität statt Quantität“, sagt Pfarrer Walter. „Ich glaube, es kommt bei Mitgliederzahlen nicht mehr auf die Mehrheit an, sondern auf eine Entschiedenheit“, sagt er. „Es geht darum, dass die Leute bewusst sagen: Ich bin katholisch, ich bin Christ und gehöre zu dieser Kirche.“
Dekanin Klusmann ergänzt: „Wir haben in den vergangenen Jahren nach dem Motto gelebt: Kommt zu uns! – Das muss sich jetzt umdrehen.“ Man müsse mit der Botschaft Gottes raus auf Straßen und Plätze. „Wir brauchen eine Kirche, die fähig ist, in die Zukunft zu gehen – und das müssen wir fröhlich anpacken!“
Anpacken wollen beide Geistlichen auch beim anstehenden Weihnachtsfest. Klusmann wird für die evangelische Gemeinde unter anderem bei Messen und beim Weihnachtszügle im Einsatz sein. Dabei werden Messen in Form einer Open-Air-Andacht am Burgberg, am Schättlisberg und in Nußdorf gefeiert.
Pfarrer Bernd Walter wird in mehreren Messen in den Weihnachtstagen hinter dem Altar stehen. Die katholische Seelsorgeeinheit überträgt diese im Livestream an Heiligabend, am ersten und zweiten Weihnachtstag sowie am Neujahrstag.
„Es gibt schon noch eine Sehnsucht nach der heilen Welt!“
Pfarrer Bernd Walter, katholischer Münsterpfarrer
„Wir stehen für Identifikation in einer Zeit, wo vieles auseinanderbricht.“
Regine Klusmann, Dekanin im evangelischen Kirchenbezirk Überlingen-Stockach
Kirchenaustritte
Etwa 360 000 Menschen sind bundesweit im vergangenen Jahr aus der katholischen Kirche ausgetreten, so die Zahlen der Deutschen Bischofskonferenz. Die Evangelische Kirche notierte bei sich in dem Zeitraum 280 000 Austritte. Der Trend lässt sich auch in Überlingen beobachten: 144 Menschen kehrten 2021 der katholischen Seelsorgeeinheit den Rücken, bei einer Gesamtzahl von rund 9000 Mitgliedern. Bei der evangelischen Gemeinde notierte man 40 Austritte bei rund 3500 Mitgliedern.
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