Südkurier Konstanz, 31.03.2023

 

Der Kirche schlägt Stunde der Wahrheit

Bald Bericht über Missbrauch im Bistum Freiburg Warum der Betroffenenrat sehr skeptisch ist VON ULI FRICKER

Freiburg – Das Erzbistum Freiburg sieht dem 18. April mit Spannung entgegen – möglicherweise als wichtigstem Tag des Jahres für die Katholiken in Baden. An diesem Tag – zehn Tage nach Ostern – wird die AG Aktenanalyse ihren Bericht über den früheren Umgang mit sexualisierter Gewalt vorstellen. Dabei geht es um die Jahre 1978 bis 2020, das entspricht den Amtszeiten der Erzbischöfe Oskar Saier, Paul Wehrle als Diözesanadministrator, Robert Zollitsch sowie Stephan Burger.

Wie wichtig das 600 Seiten starke Papier ist, zeigt die Tatsache, dass die Präsentation im vergangenen Herbst verschoben worden war, um jede Passage juristisch wasserdicht zu machen. Man schulde den Betroffenen die konsequente Aufarbeitung der Missbrauchsverbrechen, sagt Christoph Neubrand im Vorfeld zu dem Bericht. Als Generalvikar (Verwaltungschef des Erzbistums) und zweiter Mann hinter dem Erzbischof begleitet Neubrand die Auswertung der Personalakten federführend mit. Er selbst sowie die Leitung des Bistums kennt die Analyse noch nicht. Man habe den vier Experten sämtliche Akten zur Verfügung gestellt, erklärt Neubrand. Sie konnten ihre Arbeit dann unabhängig verrichten. Das bestätigt auch der katholische Theologe Magnus Striet; die Kommission habe unabhängig arbeiten können.

Der Bericht soll für das Erzbistum klären, welche Strukturen den Missbrauch begünstigten und welche Umstände es den Tätern leicht gemacht haben, ihre Vergehen zu vertuschen und vertuschen zu lassen. Mit Spannung wird erwartet, wie die Vorgesetzten dieser Seelsorger mit den kriminellen Taten der Pfarrer umgingen. Auf der Basis dieser Dokumentation werde die Kirchenleitung dann weitere Konsequenzen ziehen und die Verantwortlichen benennen, kündigt Neubrand an.

Die Umsetzung dürfte nicht leicht sein: Da viele Fälle weit in der Vergangenheit liegen, leben die Täter zum Teil nicht mehr. Der ehemalige Pfarrer von Oberharmersbach beispielsweise, der den moralischen Tiefpunkt in diesem Zusammenhang markiert, schied von eigener Hand aus dem Leben. Oberharmersbach im Kinzigtal steht für reihenweise Übergriffe im Raum der katholischen Kirche, speziell an Ministranten. Erschwerend kommt hinzu, dass die Aufklärung dieser kriminellen Taten von Mitarbeitern im Ordinariat (Verwaltung) früher noch behindert wurde. Personalakten waren teils manipuliert worden, teils fehlten wichtige Dokumente, die offenbar entwendet worden waren, um die kriminellen Handlungen der Akteure zu verwischen. Diesen Aktenschwund deckte 2019 die MHG-Studie auf, die den Missbrauch flächendeckend für alle katholischen Diözesen in groben Umrissen erfasst hat. Sie war von Wissenschaftlern der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen erstellt worden (deshalb das Kürzel MHG), und diese sahen sich damals mit lückenhaften Personaldossiers konfrontiert.

Diese und andere Pannen erschüttern die Betroffenen, um die es eigentlich geht. Sie haben sich vor zwei Jahren in einem Betroffenenbeirat auf der Ebene des Erzbistums organisiert, da sie sich bisher nicht ernst genommen sahen. Ihre Sprecherin Sabine Vollmer wies die Verantwortlichen darauf hin, dass es mit Schuldbekenntnissen allein nicht getan sei. „Ich habe vielen Verantwortlichen gesagt, dass die Kirche auch Geld und Kapazitäten in die Ausbildung von Psychotherapeuten investieren müsste“, sagt Vollmer im Interview mit der Wochenzeitung „Konradsblatt“. Mit guten Worten werde man sich nicht begnügen. Der Beirat verstehe sich nicht nur als organisatorisches Instrument. Viele Opfer erkundigten sich dort als erste Anlaufstelle. „Bei uns melden sich Männer und Frauen, die in ihrem ganzen Leben noch nie mit jemanden gesprochen haben, was ihnen als Kind angetan wurde“, weiß Vollmer. Sie und ihre Mitstreiter sehen ihre Arbeit vor allem als Dienst für die anderen Opfer von Gewalt. „Mir tut das oft nicht gut, aber ich mache es, weil es wichtig ist und weil wir auch viele positive Rückmeldungen von Betroffenen erhalten, die einen freuen.“ (Vollmer ist ein Deckname, den sie gewählt hat, um sich und ihre Familie zu schützen).

Während die Arbeit am Bericht in die Endphase geht, hat das badische Bistum bereits mit Zahlungen begonnen. Etwa drei Millionen Euro wurden bisher an die Betroffenen ausbezahlt, berichtete der Generalvikar bereits zu Beginn des Jahres. 90 Menschen erhielten seit 2020 entsprechende Überweisungen. Darüber hinaus werden etwa 40 Betroffene durch eine Monatszahlung unterstützt. Sie hätten bei der Kirchenleitung um Hilfe gebeten, auch für den Kauf des täglichen Brotes. Die Hilfen belaufen sich im mittleren dreistelligen Bereich pro Monat.

Erzbischof Stephan Burger versucht seit einiger Zeit, aus der permanenten Defensive zu kommen, in der sich die katholische Kirche seit mehr als zehn Jahren befindet. Übergriffe sexueller Art seien kein speziell katholisches Problem, sagte er: „Das Thema muss für die gesamte Gesellschaft bearbeitet werden.“ Die katholische Kirche habe dabei vergleichsweise mehr getan als die Vertreter anderer gesellschaftlicher Bereiche wie zum Beispiel der Vereine und im Leistungssport. „Als katholische Kirche haben wir eine Vorreiterrolle“, sagt Stephan Burger.

Der Beirat, der die damals angegriffenen Kinder und Jugendlichen vertritt, kann diese Vorreiterrolle bisher nicht erkennen. Sabine Vollmer lobt beispielsweise das Video, in dem sich der ehemalige Erzbischof Robert Zollitsch zu seinen Versäumnissen bekennt, weil er auf die Verfehlungen seiner Pfarrer damals nicht angemessen reagierte. Seine Bitte um Entschuldigung dagegen könne sie nicht akzeptieren, denn damit würde sich der ehemalige Erzbischof und andere aus der Verantwortung stehlen, sagt Vollmer. So einfach ginge es nicht.

Ob Zufall oder nicht: Robert Zollitsch hat Freiburg Mitte März Richtung Mannheim verlassen. Das Ordinariat will es erst einige Tage zuvor erfahren haben, heißt es in Freiburg aus gut unterrichteten Kreisen. Der Umzug nach Mannheim sei aber nicht als Flucht des 85-jährigen Würdenträgers zu verstehen. Vielmehr habe Zollitsch, der das badische Bistum von 2003 bis 2013 leitete, einen Platz fürs betreute Wohnen erhalten.

„Bei uns melden sich Männer und Frauen, die in ihrem ganzen Leben noch nie mit jemanden gesprochen haben, was ihnen als Kind angetan wurde.“

Sabine Vollmer, Sprecherin des Betroffenenrats