Die Luft wird dünner für diesen Gesang
Isabel SteppelerGefragt in ganz Europa, aber bedroht: Singschule Cantus Juvenum kämpft ums Überleben
Wenn an diesem Samstag die Opernwelt nach Baden-Baden blickt, wo das Festspielhaus zu den Osterfestspielen der Berliner Philharmoniker mit der aufwendigsten Operninszenierung seiner Geschichte lockt, stehen auch wieder Kinder von „Cantus Juvenum Karlsruhe“ im Rampenlicht. Wie so oft sind ihre ausgebildeten Stimmen gefragt – diesmal für das Mammutprojekt rings um die Oper „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss unter der Leitung des Dirigenten Kirill Petrenko.
Auch zum neuen Karlsruher „Wozzeck“ gehören die Kinder der 2006 gegründeten Karlsruher Singschule. Aus den Spielplänen am Badischen Staatstheater oder dem Theater Freiburg sind sie kaum wegzudenken. Wo „Tosca“, „Die Zauberflöte“, „Hänsel und Gretel“ oder „Carmen“ gezeigt werden, verlangt die Partitur gute Kinderstimmen. Das Festspielhaus setzt regelmäßig auf sie. Zuletzt bei den Osterfestspielen 2022 in Tschaikowskys „Pique Dame“, im Herbst 2021 sangen sie im Faure-Requiem unter Teodor Currentzis, 2017 in zwei Puccini-Opern – „Tosca“ unter Simon Rattle und „La Bohème“ mit Currentzis.
„Der Chor hat bereits herausragende Leistungen bei verschiedenen Baden-Badener Festspiel-Produktionen erbracht“, sagt Festspielhaussprecher Rüdiger Beermann. „Uns begeistert aber nicht nur das musikalische Ergebnis, sondern insbesondere die Hingabe, mit der die Gesangspädagogen und Eltern den Sängerinnen und Sängern das Musikmachen als Lebenseinstellung nahebringen. Dieser Chor ist ein besonderer Edelstein in der Chorlandschaft des Landes.“
Gute Kinderchöre: eine Seltenheit. Gleichwohl sind sie immer wieder Bestandteil im Musiktheater. Kein Opernhaus aber betreibt einen Kinderchor. Insofern ist die Singschule weit über Karlsruhe hinaus ein Segen. Doch wird die Luft zunehmend dünner für diesen Gesang. „Cantus Juvenum droht das Aus“, sagt Hanno Müller-Brachmann, Vorstandsvorsitzender der Singschule, die als Verein organisiert ist.
Im Jahr 2006 gegründet, hat sich der Mädchen- und Knabenchor einen beachtlichen Ruf erarbeitet. Das Besondere: Die Stimmen der 180 Kinder und Jugendlichen werden individuell ausgebildet. Das spricht sich auch außerhalb der Region herum: Mittlerweile stehen die Kinder auf den bedeutendsten Opern- und Konzertbühnen in Deutschland und dem europäischen Ausland. Sie waren schon im Opernhaus Nürnberg bei der Premiere von Claude Debussys „Pélleas et Mélisande“ unter der Leitung von Joana Mallwitz dabei, in der Berliner Philharmonie oder im Brüsseler Opernhaus La Monnaie. Und da ist das Hauptwirken des Chores noch nicht erwähnt: seine Auftritte im Rahmen von Kirchenmusik in Karlsruhe und der Region.
Die Liste ließe sich lange fortführen. Nicht mehr lange fortführen aber lässt sich der Kampf ums Überleben dieser Institution, erklärt Müller-Brachmann. Die Pandemie war eine Zerreißprobe, wurde aber durch sehr viel Engagement bewältigt. Nun drohen Sparzwänge in Stadt und Land. Auch die badische Landeskirche, die den Chor finanziell und mit Proberäumen unterstützt, muss einsparen.
Demgegenüber stehen steigende Kosten. Auch deshalb, weil die Beschäftigungsverhältnisse der 17 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf ein nachhaltiges Fundament gestellt werden müssen. „Ich weiß im Moment nicht mehr, wie es weitergeht“, sagt Müller-Brachmann. Wenn sich nicht bald eine solide Finanzierung findet, wird der exzellente Chor, der nicht nur die Ohren mit Schönklang streichelt, sondern auch die Seelen der Kinder, seine Arbeit einstellen müssen.
In Zahlen: Ausgaben von künftig 300.000 Euro stehen sichere Einnahmen durch Zuschüsse (ungekürzt) und Elternbeiträge von knapp 180.000 Euro gegenüber. Fehlen 120.000 Euro, die allein durch Gagen nicht zu erwirtschaften sind.
Ein wunder Punkt auch für Müller-Brachmann: „Cantus Juvenum Karlsruhe ist deutlich präsenter auf den Bühnen Baden-Württembergs als vergleichbare Chöre, die allerdings wesentlich bessere öffentliche Förderung erhalten.“ Der Druck, Geld zu erwirtschaften, um den Verein am Leben zu halten, erdrücke die Arbeit: „Wir sind genötigt, sehr oft aufzutreten, was uns an die Grenzen des Machbaren bringt“, erklärt Müller-Brachmann. „Was die Familien leisten, ist enorm. Die Balance der künstlerischen und pädagogischen Sinnhaftigkeit darf aber nicht bedroht sein.“
Es sei dringend geboten, dass sich Stadt, Land und Kirche an einen Tisch setzen und „zum Schwur kommen.“ Müller-Brachmann weist darauf hin: „Der Bundesverband deutscher Gesangspädagogen trifft sich im April in Karlsruhe. Wir werden international wahrgenommen. Es wäre sehr peinlich, wenn eine solche Arbeit in Baden-Württemberg eingestellt werden müsste“, sagt er. Dass eine berentete Sekretärin aus dem hessischen Karben mit einer großen vierstelligen Summe größte Einzelspenderin des Chores ist, „beschämt mich“. Seit 2017 kümmert sich der weltweit konzertierende Bariton und Professor für Gesang an der Hochschule für Musik als Vorstand für die Belange der Singschule. Als Pädagoge betont er zudem, wie wertvoll Singen für die Resilienz, das Gedächtnis und die soziale Kompetenz der Kinder und somit für die Gesellschaft ist. Doch jetzt ist er mürbe. „Ich bin am Ende meiner Ideen, Möglichkeiten und Kräfte.“
Trotzdem kämpft er weiter. Schreibt Briefe, mailt – sucht Rat bei Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel oder Vertretern von Verbänden, lädt Kulturstaatsministerin Claudia Roth oder Wolfgang Schäuble ebenso zu Auftritten des Chores wie Abgeordnete des Landtages zu den Osterfestspielen in Baden-Baden. All das wirkt wie der letzte Versuch. Müller-Brachmann sucht Fördermitglieder, Sponsoren, Paten für Kinder aus sozial schwachen Familien. Er sucht eine Stiftung. Und vergisst auch sein wichtigstes Argument nie: „Singen macht durch die Ausschüttung von Hormonen schlicht glücklich.“
Cantus Juvenum Karlsruhe singt derzeit bei den Osterfestspielen in Baden-Baden (1., 5. und 9. April) sowie am Badischen Staatstheater („Carmen“, 6. April, und „Wozzeck“, 10. April). Am 15. April ab 20.15 ist „Die Frau ohne Schatten“ auf 3sat zu erleben.